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kritisch gesehen: bahnwärter thiel am landestheater nordwestEin altes Stück vom Schrecken des Fortschritts

Es scheint eine große Liebe zur Prosaliteratur zu sein, wegen der Marie-Sophie Dudzic den „Bahnwärter Thiel“ von Gerhart Hauptmann in Wilhelmshaven ins Theater holt. Sie wartet mit keiner ausgeklügelten Interpretation auf und rechnet nicht mit überholten Sichtweisen der Novelle von 1888 ab. Die handelt davon, wie die Titelfigur zum Mörder wird. Denn nach dem Tod seiner ersten Frau, Minna, verheiratet sich Thiel mit seiner Magd Lene neu, die ihren Stiefsohn Tobias misshandelt. Als das Kind stirbt, nachdem sie ihn unbeaufsichtigt an den Gleisen hat spielen lassen, ermordet der Bahnwärter seine ungeliebte zweite Frau.

Die Regisseurin verteilt den – gekürzten – Originaltext an der Landesbühne Niedersachsen Nord auf drei Schauspieler:innen, die ihn frontal zum Publikum in aller Klarheit artikulieren. Ort des Geschehens ist ein halbrundes Arena-Bühnenbild (Ausstattung: Friederike Meisel), das von einem Prospekt mit dräuenden Wolken begrenzt ist.

Bei dieser Wiederbegegnung mit dem Werk kommentiert und ironisiert das Ensemble die Sätze gestisch wie mimisch. Es lässt sich dabei immer wieder vergnüglich zu ausgelassenen Spielsituationen hinreißen. Wenn Thiel seine große Liebe, die zarte Minna, kennenlernt, tanztoben Sven Heiß und Franziska Jacobsen in jugendlich verzücktem Übermut. Er steckt ihr Blumen als Boten seiner Glückseligkeit in die Kleidung und singt herzallerliebst Bill Withers Hit „Just the two of us“. Beim Tod Minnas wechselt Heiß in einen grimmig harschen Ton. Thiel zieht sich in die Ereignislosigkeit seines Schrankenwärter-Daseins zurück. Einsam hockt er am Bühnenrand und arrangiert Minnas Blumen immer wieder neu. Aber schon kommt die von Ramona Marx gespielte Nachfolgerin ins Spiel. Thiels Körper scheint magisch von ihr angezogen zu werden, er grabbelt, knutscht, kläfft, schwitzt sich an sie heran.

Sehr schön funktioniert nun die Bühnensituation: Thiel steht zwischen zwei Frauen, der liebevollen Minna, die tot, aber in der trauernden Fantasie überpräsent ist, und Lene, der er sexuell hörig ist. Die Darstellerinnen gehen mit den Rollenklischees von der Heiligen und der Hure erfreulich zurückhaltend um, wie auch Heiß den Zwiespalt Thiels zwischen triebgesteuerter und feinfühlig pflichtbewusster Männlichkeit besonnen austariert.

Auf einem TV-Gerät flimmern mehrmals Bilder aus Maschinenräumen der Industrialisierung, gegen die Hauptmann mit seinem Stück anschrieb. Die Lok, deren Lärm in Wilhelmshaven eingeblendet wird, ist Symbol für die Mechanisierung des Lebens, aber auch für die „unverwüstliche Arbeiterin“ Lene, den tödlichen Fortschrittsglauben und das rücksichtslos geradeaus ratternde Schicksal des Protagonisten.

Schauspiel „Bahnwärter Thiel“, Landesbühne Nord Niedersachsen, wieder am 6. 9., 20 Uhr und 22. 9., 18 Uhr, Theos, Wilhelmshaven; sowie am 24. 9., 19.30 Uhr, Stadthalle, Papenburg; 25. 9., 19.30 Uhr, OS, Norden;

27. 9., 20 Uhr, Theater, Jever

Bei Hauptmann ist das wohl eine aktualisierende Replik auf Büchners „Woyzeck“. Aber eine Übersetzung aus dem 19. ins 21. Jahrhundert nimmt Dudzic gerade nicht vor. Sie zeigt eine historische Geschichte, die andeutet, dass vor rund 130 Jahren irgendwo die Weichen falsch gestellt wurden. Daher bleibt der Abend ungenau, analysiert die privaten nicht als gesellschaftliche Konflikte, sondern psychologisiert eine dysfunktionale Familie. Die bringt die performativ gut verlebendigte szenische Lesung aber anrührend über die Rampe. Jens Fischer

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