piwik no script img

kommunistische manifeste, große brüder etc.Big Brother und die Hölle der Medienvollzugsanstalt

JOHN, WIR LIEBEN DIR!

Der tätowierte Ex-Hausbesetzer mit den großen Ohrringen und dem netten Lachen wuchs im Kinderheim auf. Manchmal trug er einen roten Stern an seiner Jeansjacke, vor allem fiel er durch hauswirtschaftliche Kompetenz auf. Vor Wochen gab er Manu mal einen aufmunternden Klaps auf den Po. Eines turbulenten Sonntagabends im April skandierte er diverse Parolen, in die seine ignoranten Mitbewohner aus dem Westen nur halbherzig einstimmten: „Die Mauer muss weg!“, „Ihr seid das Volk – wir sind die Bewohner“ . . .

Schon damals fanden wir ihn am besten und ärgerten uns, dass RTL 2 ihn zu ignorieren schien und vor allem die rheinische Frohnatur Jürgen protegierte. Vor zwei Wochen dann hatte sich John in unsere Herzen geweint. John. Big John.

Unter dem Motto „Support your local hero“ veranstaltete der Jugendsender Fritz letzte Woche im Potsdamer Waschhaus eine lange Nacht für den sympathischen Potsdamer. Vor allem Leute zwischen 15 und 25 kamen. Seltsam, „Big Brother“ auf einer Großbildleinwand zu gucken. Die Sätze, die John sprach, wurden gerne beklatscht. Vor allem als er in irgendeinem Zusammenhang sagte: „Das heißt: Ick liebe dir.“ Wir lieben dir, John! Und weil wir dir lieben, sollten wir vor allem diesen auswendig gelernten Jürgen rauswählen! Der wird nämlich von Endemol übelst gefeaturt und ist Hauptkonkurrent unseres Helden.

Vor dem Potsdamer Waschhaus traf ich Jörg, den großen Bruder von John. Er ist Altenpfleger, supernett und sieht John kaum ähnlich, weil der Papa ein anderer ist. Jörg sagte, dass er die „Big Brother“-Sendung oft anstrengend finde. Weil die Bewohner abgeschnitten sind von ihren sozialen Zusammenhängen, glichen sie sich an, und es sei langweilig, ihnen in ihrer Langeweile zuzuschauen. Das „Wahre Leben“ bei Premiere sei interessanter. Die „Sowieso raus!“-Rufe der Fans erinnerten Jörg an ungute Zeiten. Tina findet John prima, konnte aber auch nicht sagen, wieso er eher als die anderen das Preisgeld verdient. Die anderen sind ja auch okay. Finde ich auch. Was an „Big Brother“ nervt: Die Bewohner mögen sich zwar, der Sender konstruiert allerdings ständig Konflikte.

Später gab es interessant besetzte „Talkrunden“ und Telefoninterviews bis 4 Uhr morgens mit Angela Marquardt, Produzent Laux und dem die Bewohner betreuenden RTL-Psychologen, der sagte, er habe zweimal eingreifen müssen.

Nur schade, dass die, die live in Potsdam dabei waren, kein Wort verstehen konnten. Die Disko nebenan war zu laut. Die RTL 2-Tante Sophie Rosentreter sagte: „John ist einfach so, wie er ist“ und dass es sie ein bisschen verletzt habe, als in der SZ stand: „Sophie Rosentreter: das Grauen hat einen Namen“. Kann man verstehen. In meinem Lexikon steht unter „Grauen“ auch Percy Hoven. Dann saß ich eine halbe Stunde in einem komischen Helge-Schneider-Sessel zwischen zwei fröhlichen Moderatoren und einem aufgekratzten Volontär vom Tagesspiegel und bemühte mich, „Big Brother“ als kommunistisches Experiment zu beschreiben. Wegen Égalité vor allem. Der Gedanke kam von einem Bekannten, der koreanische Kinder unterrichtet, die mit großer Begeisterung „Big Brother“ verfolgen. Dafür gab's 150 Mark. Wenn die Sendung schrecklich ist, ist sie doch nur ein Spiegel des Schrecklichen, in dem wir leben, also Aufklärung.

Im Taxi nach Hause redeten wir über „Big Brother“. Der Fahrer dachte sicher: was für Vollidioten. Zu Hause sagte Kirsten, dass die Exbewohnerin Kerstin in der Fritz-Sendung gewesen sei und gesagt habe, dass RTL 2 ganz eindeutig manipuliere. In echt sei John viel besser als im TV. DETLEF KUHLBRODT

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen