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kolumneSTEFFEN SURFT SICH SÜCHTIG

Neulich hat Steffen mich versetzt. Zum ersten Mal. Statt mit ihm auszugehen, rief ich im Zehnminutentakt bei ihm an, immer mit dem gleichen Ergebnis: tuut, tuut, tuut – besetzt. Am nächsten Tag verstand ich, wieso ich einen Korb bekommen hatte: Stolz verkündete mir Steffen via E-Mail, dass er jetzt auch endlich online sei. Also bloß Netzkonkurrenz, dachte ich erleichtert. Und war lediglich erstaunt, dass der Technikfeind Steffen im fortgeschrittenen Alter von 32 Jahren noch einen Kaltstart ins World Wide Web hinlegt. Ich dachte immer, er habe den Internetanschluss verpasst.

Eins konnte ich allerdings nicht: ahnen, dass seine Spätzündung der Anfang einer großen Tragödie war. In den ersten Tagen wunderte ich mich deshalb noch nicht über Steffens Begeisterung. Er blieb täglich mehrere Stunden im Netz, ergänzte pflichtbewusst seine Bookmarks und schickte mir fast stündlich eine Mail – ganz professionell in Kleinschrift und lustig unterschrieben mit „dettmar kramer“ oder „robby nash“. Ich schmunzelte über seinen Eifer und freute mich besonders über elektronische Blumenpostkarten. Bis mir auffiel, dass wir uns seit seinem Online-Eintritt nicht mehr gesehen haben. Mir dämmerte es zum ersten Mal: Ist Steffen vielleicht netzabhängig? Internetsüchtig?

Mittlerweile weiß ich: Ich lag goldrichtig. Denn alles, was nicht mit „www“ oder „C:\“ anfängt, ist für ihn uninteressant geworden. Er chattet, surft und loadet down, dass seine Festplatte ächzt. Immer auf der Suche nach dem günstigsten Anbieter, hat er zwischenzeitlich schon dreimal den Provider und die E-Mail-Adresse gewechselt. „ist die mail von 16.29 mit meinem neuen absender bei dir angekommen?“, fragte er mich via Elektropost – das ist noch die einzige Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren.

Für mich haben Spam-Mails nun einen Namen: Steffen. Er bombardiert mich mit Surftipps, Bildern und Real Videos, sodass ich einen Extra-Ordner in meinem Postfach für ihn anlegen musste. Meine Mail mit den Links www.netaddiction.com – der „Guide to Healthy Computing“ – und www.onlinesucht.de blieb allerdings unbeantwortet. Hätte ich mir denken können.

Gestern Abend klingelte ich auf gut Glück bei ihm. Er war zu Hause und natürlich online. „Komm rein“, sagte er, und ich fragte mich, ob er die Wohnung oder das Internet meinte. Verwahrlost sah er aus, blass und fast so wie Robert T-Online mit Virusinfektion. „Ich bin im Chat Lag“, erklärte er mir, aber wenn ich wolle, könne er mal eben das Treppengeländer runterscrollen und beim Kiosk gegenüber ein paar Bier downloaden, die wir uns schnell reinstreamen. Sofort war klar: Steffen braucht eine Sprechstundenhilfe. Und eine Therapie. Dringend.

Ich erzählte ihm von dem Schicksal eines Südkoreaners, der kürzlich wegen übermäßigen Internetkonsums sowohl an Mangelerscheinungen als auch an Herzversagen starb. Aber Steffen hörte mir schon gar nicht mehr richtig zu – er rieb sich bloß mechanisch den Zeigefinger seiner linken Hand mit Franzbranntwein ein. „Das gibt mehr Klicks“, erklärte er, drehte sich um und verschwand wieder im Cyberspace. Ich saß noch einige Minuten schweigend auf der Couch – auf die er eigentlich gehört – und kam mir vor wie eine E-Mail an die falsche Adresse. Unzustellbar, zurück. So machte ich mich auf den Weg nach Hause. Ich ging langsam über den Goetheplatz und begann mich an den Gedanken zu gewöhnen: Ich habe Steffen an das Internet verloren. Dennoch: Falls er euch zufällig über den Weg chattet, schickt ihn doch bitte zurück an unten stehende Anschrift.

Jutta Heeß

pechlucky@gmx.de

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