piwik no script img

Archiv-Artikel

kleine schillerkunde (5) Einer von uns

Schiller ging in Ludwigsburg zur Schule und flüchtete später vor der Enge der Stadt. So wie ich. Solches Ludwigsburgertum verbindet ein Leben lang

Wer A sagt, muss bekanntlich auch B sagen. Wer Schiller sagt, sagt deshalb auch Goethe. Wer Weimar sagt, darf Jena nicht vergessen. Aber wer sagt schon Schiller und Ludwigsburg? Ich ging wie Schiller in Ludwigsburg zur Schule (aufs Goethe-Gymnasium), wo ich mit Latein gequält wurde.

Dass Schiller zwar im benachbarten Marbach geboren, im Grunde aber ein Ludwigsburger war, wusste ich schon seit der Kindergartenzeit. Diese Tatsache wertete das eigene Ludwigsburgertum spürbar auf. Wie in jeder ordentlichen deutschen Stadt gab es eine eher hässliche Schillerstraße, einen unscheinbaren Schillerplatz mit einem steifen Schillerdenkmal, und meine Mutter brachte vom Markt Schillerlocken mit nach Hause, die ich gerne aß, auch wenn ich nicht begriff, was Räucherfisch und Dichterfürst miteinander zu tun haben könnten. Schillers Frisur (gepudert?) sah doch wahrlich anders aus.

Andererseits: Schiller ist überall. Dass es in der Stadt auch drei Wohnhäuser der Familie Schiller zu besichtigen gegeben hätte, blieb mir ebenso verborgen wie der Standort der ehemaligen Lateinschule in der Oberen Marktstraße, die Schiller von 1766 bis 1772 besuchte. So sehr interessierte ich mich dann auch wieder nicht für diesen Mann. Um es vorsichtig zu formulieren: Die Wochen, in denen Schiller im Deutschunterricht dran war, gehörten nicht zu den privilegierten Momenten meiner Aufmerksamkeit.

Glaubt man Ludwigsburger Annalen, waren die Jahre, die Schiller als Sieben- bis Dreizehnjähriger hier verbrachte, seine prägendste, allerwichtigste Lebenszeit. Von Opernaufführungen im Schlosstheater ist da die Rede, Schiller habe hier seine ersten Bühneneindrücke gesammelt. Der Besuch einer Ludwigsburger Glockengießerei soll sich so sehr eingeprägt haben, dass daraus eines Tages und gewissermaßen ohne Umwege die Zeilen zur „Glocke“ resultierten: Ohne Ludwigsburg gäbe es also eines der berühmtesten deutschen Gedichte nicht.

Vor allem aber war Ludwigsburg eine Garnisonsstadt. Auf den rechtwinkligen Straßen paradierten die Soldaten des Herzogs Carl Eugen. Die Schulen waren Drill- und Disziplinierungsanstalten. Schiller wurde vom Herzog requiriert und als Eleve in die „militärische Pflanzschule“ auf Schloss Solitude gesteckt.

Uns ging es ganz ähnlich: Schule, Drill, Hausaufgaben. Gleichgültig, wie viele seiner Gedichte wir auswendig lernen mussten: Wir Ludwigsburger Schüler sahen Schiller nicht als Dichterfürsten, sondern als Mitschüler und Mitleidenden. Wenn wir mit seinen Versen malträtiert wurden, wussten wir doch, dass auch er einmal malträtiert worden war. Die alten Kasernen standen noch, und manche wurden von den Amis genutzt, die dort mit seltsamen Lkws mit aufwärts gereckten Auspuffrohren herausfuhren; hinten auf der Pritsche saßen Soldaten und grinsten. Andere Kasernen standen leer. Da warfen wir mit Steinen die Fensterscheiben ein.

Schiller, der aus Württemberg desertierte, um Dichter werden zu können: damit konnten wir etwas anfangen, als wir überlegten, mit welchen Argumenten sich die Gewissensprüfung im Kreiswehrersatzamt bestehen ließe. Unfassbar, dass dieser Schiller gerade mal zwanzig war, als er „Die Räuber“ schrieb. Obwohl wir uns durchaus für genialisch hielten, ahnten wir, dass uns ähnliches nicht gelingen würde. Und doch schöpften wir Trost daraus, dass man auch als Schüler eines Tages zum Klassiker werden kann.

Und was noch wichtiger war: Man kann dabei auch Schwäbisch sprechen. Wir stellten uns Schiller schwäbelnd vor, so wie ja auch Goethe hessisch dichtete: „Ach naische / du schmerzensraische“. Die beiden Lorbeerkranzträger sind dann gleich viel weniger unnahbar. Dialekt hält lebendig, denn er passt nicht auf den Olymp.

Ludwigsburg ist stolz auf Schiller, so wie jede Stadt stolz ist auf die Dichter, die zu ihren Lebzeiten möglichst bald das Weite suchten, weil es ihnen dort zu eng wurde. Als Schiller 1793 mit seiner hochschwangeren Frau noch einmal, ein letztes Mal zurückkehrte, um sich mit dem Vater zu versöhnen, war der Aufenthalt wenig erquicklich. Wenigstens starb der verhasste Herzog pünktlich zur Wiederkehr. „Manche, die ich als helle aufstrebende Köpfe verließ, sind materiell geworden und verbauert“, schrieb Schiller aus Ludwigsburg an seinen Freund Körner. Seine Frau, eine Fremde im Schwäbischen, wurde noch deutlicher: „Es giebt noch gar wenig Cultur unter den beßern Theil der Gesellschaft“, klagte sie. „Die Männer sind meist materielle wesen, und von den Frauen darf man gar nicht sprechen, die sind so bornirt wie sie bei uns vor 50 Jahren waren, und ihre häuslichen Tugenden sind doch auch so groß nicht.“

An diese Einsichten konnten wir uns halten. Schiller war einer von uns. Nichts hatte sich geändert seither. So wurden auch wir zu Kriegsdienstverweigerern und desertierten aus Württemberg. JÖRG MAGENAU