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kikkerballenGemütsruhe vs. Elfmeterphobie

Holland hofft immer

Ein Strafstoß für Holland, das weiß hier in der kleinen Gasse jeder, ist immer ein Strafstoß gegen Holland. Nichts fürchten die Fans in der Oranje-Kneipe „De Groene Vlinder“ im Amsterdamer Stadtteil Zuid seit den Turnierpleiten von 1992, 1996 und 1998 mehr als eine Entscheidung durch Elfmeterschießen. Das unterscheidet sie im Übrigen nicht von ihren Helden auf dem Rasen. „Es ist ein Verhängnis“, sagt Evelyn (32). „Seit Marco van Basten 1992 das Ding gegen Dänemark vergeigt hat, haben unsere Jungs eine Elfmeterphobie. Und ich auch.“

Oranje hat wieder mal sich selbst geschlagen.

Im „Groene Vlinder“ mag nach 120 Minuten und dem tragischen Shoot-out keiner mehr Johan Cruijff zuhören, der fürs holländische Fernsehn wie immer treffsicher die Gründe für die Niederlage findet und die Schwachstellen im Spiel der Holländer offenbart. Die Fußballnarren, die zum Feiern in die Kneipe gekommen waren, wissen selbst, woran es hapert: „Im entscheidenden Moment fehlt es uns Holländern an Kaltblütigkeit, an der Moral.“

Das hätten sie mit den Portugiesen gemeinsam, meint der Vorsitzende des portugiesischen Kulturvereins „Os Lusitanos“ gleich nebenan. Der hat nach der Niederlage seiner Favoriten am Vortag gegen Frankreich an diesem Tag „aus Solidarität mit dem schöneren Fußball“ die Fahne Hollands über der Tür seines Lokals gehängt. „Ihr spielt nach Portugal den besten Fußball in Europa“, erzählt er jedem, der es hören will. „Aber ein Team, das es schafft, in der regulären Spielzeit zwei Elfmeter zu verschießen, verdient es nun mal nicht besser.“

Auf dem Rembrandtplein, wo die Amsterdamer in den großen Ajax-Zeiten die Siege ihrer Helden bis zum Morgengrauen feierten, will eine halbe Stunde nach dem Spiel gegen Italien immer noch keiner der Tausenden in orangefarbener Einheitskluft so richtig wahrhaben, dass die dreiwöchige Party für sie ein vorzeitiges Ende haben soll. Ungläubig stiert ein junger Mann in orangefarbenem Schottenrock minutenlang auf die Leinwand im „Hof van Holland“, verschüttet die Hälfte seines Biers beim Schwenken seiner rot-weiß-blauen Fahne und grölt ein letztes „Hup, Holland, hup“.

Auf der Leinwand salbadern immer noch Johan Cruijff und Ruud Gullit über den Spuk Elfmeterschießen und erklären den Zuschauern draußen auf dem Platz ihr Bedauern darüber, dass Bondscoach Frank Rijkaard gleich nach dem verlorenen Elfmeterschießen seinen Job geschmissen hat. Hinhören mag ohnehin keiner mehr, die neuesten Hits aus den Charts haben die dumpfen „Holland-olé-olé-olé-olé“-Schläger verdrängt, die Leute wenden sich verstärkt dem Alkohol zu – in der Hoffnung, dem Kater zuvorzukommen.

Der Kater ist da, auch auf dem Leidseplein, seit Beginn des holländischen Siegeszugs bei der EM im eigenen Land Sammelpunkt feiernder Oranjefans in der Hauptstadt. „Sie haben doch im Training jeden Tag Elfmeterschießen geübt“, erklärt mit weinerlicher Stimme ein wankender Fan einem Polizisten, während er dessen Pferd sanft die Nase streichelt. „Jeden Tag geübt und auch getroffen. Hab ich doch selbst im Fernsehen gesehen.“ Der in blauem Harnisch verpackte Polizist, der nach einem kurzen Einsatz gegen frustrierte Randalierer auf dem Rembrandtplein vor gut einer Stunde seine Amsterdamer Gemütsruhe wiedererlangt hat, tröstet, so gut er kann: „In zwei Jahren, bei der WM, haben sie es, wenn sie nur fleißig weiterüben, am Ende mit Sicherheit drauf“, sagt der Polizist, während sein Pferd genüsslich auf das Kopfsteinpflaster scheißt.

Zusammen mit Millionen Niederländern waren die wenigen hundert, die sich im gleißenden Licht der untergehenden Sonne auf dem Leidseplein ein letztes Mal zuprosten, im Vorfeld der EM überzeugt gewesen, dass es mit dem „besten Fußball Europas“, mit dieser Mannschaft um Frank, Patrick und Dennis, doch endlich mal klappen müsste. Wieder nichts. Aber Holländer verzeihen schnell. Sobald die de Boers, Kluiverts und Bergkamps ab August bei Barcelona und Arsenal zur Höchstform auflaufen, ist die Begeisterung wieder da – und mit ihr die Hoffnung, dass bei der nächsten Weltmeisterschaft in zwei Jahren ja vielleicht . . . HENK RAIJER

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