jazzkolumne : Bewahren oder benutzen
Viele Wege führen über den Black Atlantic: Das Berliner Festival widmet sich den Formen schwarzer Identitätskonstruktion
Gilroy swingt nicht. Dass Miles Davis mit weißen Europäern wie Joe Zawinul, Dave Holland und John McLaughlin zusammenspielte, dient dem „Black Atlantic“-Theoretiker als Beleg für das Scheitern der Reinheitsbegriffe. Der britische Kulturwissenschaftler und Yale-Professor für African American Studies, Paul Gilroy, hat die noch bis zum 15. November laufende Veranstaltungsreihe im Berliner Haus der Kulturen der Welt konzipiert. Das Copyright auf Jazz, das die afroamerikanische Community angemeldet hat, sei schon lange nicht mehr gültig – vielmehr stehe der Jazz heute jedem zur Verfügung, so Gilroy.
Dass diese Annahme innerhalb des afroamerikanischen Diskurses kaum geteilt wird, liegt auf der Hand. In seinem Essay „The All-American Skin Game or The Decay of Race“ geißelte Stanley Crouch sogar noch die Erweiterung der jazzfundamentalistischen Reinheitskontroverse. Gerade jene letzten zwei Jahrzehnte von Davis reflektierten das grundlegende Versagen zeitgenössischer Negro Culture, so Crouch, „jene scheindemokratische Idee nämlich, dass auch die Elite in den Gully gehört“. Gefangen im schmuddeligen Sog des Pop-Business habe Miles nach „Bitches Brew“ die Motherfucker-Pose in bunten Designerklamotten kultiviert – inhaltsleer geworden und zum hippen Marketing-Clou verkommen.
Aber nicht nur bei Crouch rennt Gilroy ins Leere, auch bei dessen größtem Widersacher, dem Dichter Amiri Baraka, kommt er nicht weiter. Denn „all that loud ass rock and roll“ ist Baraka höchst suspekt, hingegen „So What“, einer der frühen Miles-Klassiker, „is probably a prayer in the future“, schrieb Baraka nach dem Tod von Miles Davis in seinem Gedicht „When Miles Split“. Kein Wunder, dass Baraka den Authentizitätskanon eines Wynton Marsalis heute als letzte Rettungsstation umarmt. Für Baraka, dessen Klassiker „Blues People“ unlängst in einer deutschen Neuausgabe bei Orange Press erschienen ist, ist die Musik das revolutionäre Kommunikationsmedium des schwarzen Amerikas geblieben, Black Music bezeichnet er als das Vehikel schwarzer Selbsterziehung. Schon in den Sechzigern – als Wortführer des schwarzen Kulturnationalismus – hatte er die schwarze Mittelschicht für ihre Anpassung an die weiße Kultur kritisiert. Baraka prägte den Begriff der Black Music als genuin „schwarze“ Politik: Musik als direkter Ausdruck von Black Power, als Protest gegen soziale und rassistische Diskriminierung. Schwarze Künstler wurden für ihn zur „in Wahrheit progressiven Klasse“, die allerdings der Black Community verpflichtet bleibe – als ihr Sprachrohr und ihre Avantgarde. Ganz anders als bei Gilroy ist für Baraka, der am 9. November in Berlin auftreten wird, eine antiweiße Grundhaltung angesichts der großen Popularität schwarzer Musik substanziell. Nichts bleibe, „außer dass wir ausgebeutet werden“, resümiert er heute.
Die afroamerikanische Dichterin Jayne Cortez stimmt dem nur noch sehr zurückhaltend zu. Ja, Baraka habe nicht Unrecht, wenn er vom Bewahren der schwarzen Kultur spreche. Bewahren und benutzen, nutzbar machen, darum geht es ihr. Der Blick zurück allein reicht nicht, und wenn man ihr zuhört, wird schnell klar, dass die Closed-Shop-Politik eines Baraka oder Crouch ins Stocken geraten ist. Während Gilroy den Blick auf die Entwicklung schwarzer Kulturen in europäischen Kontexten lenkt, schifft der Black-Heritage-Diskurs im temporären Abseits musikalischer Identitätskonstruktion. Sie sei „Black Atlantic“, postuliert Cortez in Berlin, „I cut my hair into a permanent tam /Made my feet rebellious metronomes“, schreibt sie in ihrem jüngsten Buch „Jazz Fan Looks Back“ (Hanging Loose Press).
In den Sechzigern studierte auch Crouch in den Schreib-Workshops von Cortez, die eine Community mit einem Workshop vergleicht, in dem fünfzig Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien und Zukunftsplänen zusammenkommen und interagieren. In der Black Community gebe es nicht den einen Weg, man einige sich bestenfalls mal auf ein gemeinsames Problem. Die Aufhebung der Segregation in den Südstaaten, das war so ein gemeinsames Ziel, aber derartige historische Situationen seien die Ausnahme. Heute scheinen die Katastrophen nur so auf einen einzustürzen, sagt Cortez, Rassismus, Umweltprobleme, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Epidemien, keiner habe Lösungen dafür, aber man arbeite daran. Das Grundübel, von dem man sich bis heute nicht erholt habe, sei die Sklaverei. Jeder sei auf der Suche, da wieder rauszukommen, bis heute. Crouch habe einen Weg beschritten, sie einen anderen. Cortez gilt mit ihren politisch motivierten Bluesgedichten heute als profilierteste afroamerikanische Widerstandspoetin.
Zum Schluss hebt auch sie die Besonderheit der afroamerikanischen Erfahrung hervor. „I’m the owner of the blues“, rezitiert sie in Berlin, „I’m taking the blues back to where / the blues stealers won’t go“, und mit Miles Davis scheitert nicht die afroamerikanische Identitätskonstruktion, im Gegenteil. Während Gilroy mit „Black Atlantic“ doch eigentlich die Musik von Bob Marley meint, spricht Cortez auf ihrer neuen CD „Borders of Disorderly Time“ (Bola Press) über die „secret sound systems“ von Miles Davis, die in ihrem Leben so wichtig waren. „Sound of chance and migration“, heißt es da, magisch, militant und minimalistisch. CHRISTIAN BROECKING