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Archiv-Artikel

jazzkolumne Jenseits des 60. Lebensjahrs ist es kein Kompliment mehr, zur Avantgarde gezählt zu werden

Der Bassist Henry Grimes, das Revolutionary Ensemble und der Saxofonist Sam Rivers spielen weiter, um zu überleben

Jazz muss subventioniert werden, das ist die europäische Erfahrung. Es geht, mal wieder, ums Überleben, der Reiz, unabhängig zu sein, ist für viele zu einer Forderung der Zeit geworden, obwohl auch die Erfahrungen aus dem Indie-Business nicht nur Mut und Hoffnung machen. Wie ein roter Faden zieht sich das Distributionsproblem durch die Geschichte des ehrenwerten, aber nur seltenst profitablen Geschäfts. Die Platten vieler Labels bestellt man mittlerweile am einfachsten direkt über ihre Internetseiten. So wie die neue CD des, ja, legendären Bassisten Henry Grimes, die gerade beim schwedischen Indie-Label Ayler Records erschienen ist. „Live At The Kerava Jazz Festival“, im vergangenen Jahr mit Hamid Drake, Schlagzeug, und David Murray, Tenorsaxofon und Bassklarinette, bei dem finnischen Jazzfestival aufgenommen, ist Grimes erste CD als Leader seit seinem Wiederauftauchen vor zwei Jahren. 1967 war der Bassist, damals 31-jährig, plötzlich von der Szene verschwunden, und es kursierten wildeste Gerüchte darüber, was wohl aus ihm geworden sei. Immerhin war er bei wichtigen Aufnahmen der Jazzgeschichte dabei gewesen, hatte mit allen – von Benny Goodman über Coleman Hawkins bis Albert Ayler – gespielt. Der Schlagzeuger Denis Charles hatte immer davon geschwärmt, wie Grimes den Bass fast zum Explodieren bringen könne: Energie, Dynamik, Freiheit – auf der neuen Grimes-CD ist das alles spürbar.

Der afroamerikanische Bassist Sirone hat sich selbst wiederholt darum bemüht, seine Musik auf eigenen Labels zu veröffentlichen. Mit unterschiedlichen Ergebnissen. Sicher, Jazzmusiker können eine Platte in ein, zwei Tagen machen, und tatsächlich betreiben die meisten das Geschäft heute auch so. Doch Sirone gibt zu Bedenken, dass man viel Zeit und viele Proben braucht, wenn man einer musikalischen Idee Struktur geben will. Das sei jedenfalls die Geschichte des Revolutionary Ensemble gewesen, einer der einflussreichsten Loft-Jazz-Formationen der Siebzigerjahre, die jetzt nach fast drei Jahrzehnten Plattenpause eine neue CD veröffentlicht hat. „And now …“ ist beim kleinen amerikanischen Pi-Recording-Label erschienen und wird in Deutschland von Sunny Moon vertrieben. Die darauf enthaltenen Kompositionen der drei Ensemblemitglieder Leroy Jenkins, Geige, Jerome Cooper, Schlagzeug, und Sirone sind neu und Avantgarde wie eh und je. Das Problem ist, dass die Musiker mittlerweile jenseits der 60 sind und nur wenig Muße haben, die Kategorie Avantgarde als Kompliment aufzufassen. Wenn größere Projekte nicht mehr finanzierbar sind und Ad-Hoc-Gigs an der Tagesordnung, könnten die Älteren auf der Strecke bleiben.

Der Saxofonist Sam Rivers, in den 60er-Jahren Blue Note Recording Artist, in den 70ern Organisator der New Yorker Loft-Szene, lebt heute, 81-jährig, in Orlando, Florida. Als er Mitte der 60er-Jahre als Avantgardist bezeichnet wurde, sei er sehr einverstanden gewesen, aber dafür, dass man mit über 80 immer noch Avantgarde sei, habe er halt kein Konzept. Beim dänischen Stunt-Label ist zwar gerade dank Rivers-Mitwirkung eine wunderschöne CD veröffentlicht worden, „Purple Violets“, er habe da aber eigentlich nur mitgespielt, um den beiden jungen Mitmusikern ein paar Jobs zu ermöglichen. Die letzten Platten, die Rivers unter eigenem Namen für BMG machte, damals vermittelt durch den Altsaxofonisten Steve Coleman, liegen schon sechs Jahre zurück – man habe offenbar Angst vor der Avantgarde, resümiert Rivers, der 1964 mit Miles Davis die Platte „Miles in Tokyo“ aufnahm.

Viele der überlebenden Jazzmusiker seiner Generation hatte Miles Davis ja einst als „faule Arschlöcher“ bezeichnet, weil sie sich jeder Veränderung widersetzen und an der Tradition festhalten würden, weil sie zu bequem seien, was anderes zu probieren. Während die schwarzseparatistische Kulturpolitik den Popstar der Achtziger posthum als afroamerikanischen Nationalhelden gutzuschreiben suchte, symbolisierte er für andere den Abstieg des Jazz ins jugendkulturelle Schmuddelbusiness oder blieb schlicht der Leader – auf der gerade erschienenen DVD „Miles Electric: A Different Kind Of Blue“ (Eagle Vision) werden die unterschiedlichen Rezeptionsweisen nun auf äußerst spannende Weise thematisiert.

Im Mittelpunkt dieser zweistündigen Dokumentation von Murray Lerner, die beim New York Film Festival 2004 Premiere hatte, steht der Mitschnitt eines 38- minütigen Auftritts beim „Isle of Wight“-Festival, den Miles Davis am 29. August 1970 vor 600.000 Zuschauern hatte. Bis auf den Bandleader leben alle noch, die damals auf der großen Bühne improvisierten: Chick Corea, Gary Bartz, Jack DeJohnette, Airto Moreira, Keith Jarrett und Dave Holland. Wenn sie in Lerners Film retrospektiv über das Konzert reden, fallen Begriffe wie Trance und Energie, von Jazz ist aber kaum mehr die Rede. „You can’t fuck around like old Beethoven“, war eine typische Antwort von Miles auf die Frage nach dem Einsatz elektronischer Instrumente, mit denen er seit Ende der Sechzigerjahre experimentierte. „Bitches Brew“, im „Isle of Wight“-Jahr veröffentlicht, zählt auch 35 Jahre nach der Einspielung noch zu den einflussreichsten Werken der amerikanischen Musikgeschichte. Dass der afroamerikanische Kulturkritiker Stanley Crouch in Lerners herausragendem Film auch zu Wort kommt, macht das Bild scharf. Wo Santana gerade noch von „spirituellem Orgasmus“ schwärmt, winkt Crouch ab – der Electric Miles tauge einfach nichts, sei kommerziell vergiftet. CHRISTIAN BROECKING