jazzkolumne: Jazz. A History of America’s Music
Verschwörungstheorien
David Murray ist den Tränen nahe. Wütend kommentiert der Saxofonist in einem Berliner Hotelzimmer die Zustände in New York. Dass der Posaunist Jay Jay Johnson sich kürzlich das Leben nahm, weil er in dem Film nicht vorkommt, ist für ihn kein Gerücht. Vor fünfzig Jahren war Johnson mit Miles Davis im Studio gewesen, er gehörte zur Gründergeneration des modernen Jazz, und keiner hat ihm je streitig gemacht, dass er es war, der die Posaune für diese Musik neu erfand.
Wenig später ist auch Wynton Marsalis in Berlin. Er schüttelt den Kopf, als er Murrays Verdacht hört. Jay Jay Johnson war krebskrank, das war schon länger bekannt. Doch Marsalis weiß, dass Murray ja eigentlich ihn meint, ihn und seinen Mentor und Berater, Stanley Crouch.
Der Film, über den seit Anfang des Jahres heftig gestritten wird, heißt „Jazz. A History of America’s Music“. Ken Burns’ Film ist neunzehn Stunden lang und beschreibt in neun Teilen die Geschichte des Jazz bis 1960. Lediglich der zehnte und letzte Teil ist den Ereignissen der vergangenen vierzig Jahre gewidmet. Und da setzt die Kritik an, die von The New York Times bis zum New York Review Of Books, von The New Republic bis zur Village Voice die Runde macht. Die führenden Jazzzeitschriften, Jazz Times und Down Beat, haben dazu auf ihren Webseiten Chat-Foren eingerichtet. Der Fortschritt, den der Jazz seit 1960 gemacht haben soll, wird in dieser Jazzfilmreihe in Frage gestellt. „Jazz“ erzählt vor allem die Geschichte einer Musik, die von schwarzen Amerikanern erfunden und auch in ihren wesentlichen Neuerungen weiterentwickelt worden war. Kritiker, die von „Jazz“ die einzig wahre Geschichte erwarteten, sind enttäuscht. Denn für den renommierten Dokumentarfilmer Burns standen gerade jene soziokulturellen Aspekte dieser Musik im Vordergrund, die die Geschichte des amerikanischen Rassismus im 20. Jahrhundert erzählen.
Die Serie, die im Januar im amerikanischen Fernsehen lief, hatte an einigen Tagen bis zu zwölf Millionen Zuschauer, und der Soundtrack erreichte gerade Platinstatus – das heißt, es wurden schon 200.000 der 5-CD-Box verkauft. Das sind Eckdaten, die in der Regel nicht mit Jazz in Verbindung gebracht werden. So erfolgreich war Jazz in Amerika seit Jahrzehnten nicht, für unzählige Amerikaner mögen Burns’ Filme der erste Kontakt mit dieser Musik gewesen sein. „Jazz“ ist tatsächlich in erster Linie ein Film für Amerikaner. Burns hatte nicht vor, die Geschichte des europäischen Jazz zu erzählen. Die ja – aus amerikanischer Sicht zumindest – vor allem wohl eine von Sonderwegen und selbst behaupteten Einflussnahmen geblieben ist. Es lässt sich jedoch schön punkten mit dem Vorwurf, dass hier alles ausgespart wird, was nicht in das Klischee eines von schwarzen Amerikanern geprägten Kanons passt, den die Burns-Berater Wynton Marsalis und Stanley Crouch gern als die klassische amerikanische Musik des 20. Jahrhunderts preisen.
David Murray etwa wurde Mitte der Siebzigerjahre von Crouch nach New York geholt, der ihn als Nachfolger von John Coltrane aufbauen wollte. Doch einige Jahre später wechselte Crouch die Seiten, alles was nach schwarzer Avantgarde und Free Jazz roch, war ihm nun verhasst. Wiederbelebung von Tradition, Blues und Swing wurden zu Losungen, Ralph Ellison und Albert Murray zu Stichwortgebern, der Trompeter Wynton Marsalis, Jahrgang 1961, zum neuen Helden.
Marsalis, der Anfang der Achtzigerjahre von New Orleans nach New York zog, machte sich dort – trotz Grammys und Lehrjahren bei Art Blakey’s Jazz Messengers – vor allem unter den New Yorker Jazzkritikern Feinde, als und weil Crouch ihn unter seine Fittiche nahm. Die Werte, die Marsalis nun propagierte, wurden von der Kritik schnell als engstirnig, rückwärts gewandt und blasphemisch vom Tisch gewischt.
Marsalis ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Mittlerweile zum Führer einer neokonservativen Revolution des amerikanischen Jazznachwuchses hochstilisiert, gründete er vor zehn Jahren eine Jazzkonzertreihe am New Yorker Lincoln Center, die heute zu einer eigenständigen und einflussreichen Institution gewachsen ist.
Geblieben sind Dinge, die wehtun. Etwa dass Marsalis mal gesagt hat, Murray bräuchte dringend Nachhilfe in musikalischer Harmonielehre. Oder dass der Pianist Keith Jarrett mal geschrieben hat, Marsalis würde Blues auf dem Niveau eines Highschool-Trompeters spielen. Vielleicht kommt Jarrett deshalb auch in „Jazz“ nicht vor, wer weiß. Vielleicht bombardiert Murray auch heute noch den Anrufbeantworter von Stanley Crouch, weil kein Mittel die Wunden heilen will. Von solchen Geschichten nährt sich die Kritik. In „Jazz“ wird diese Geschichte allerdings nicht erzählt.
CHRISTIAN BRÖCKING
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