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■ intershop99 gilt nicht

Sie haben wieder über mich gelacht, meine Gäste, die um Mitternacht bei mir waren. Während sie damit beschäftigt waren, auf meinem Balkon Raketen bereitzustellen und meine Sektgläser für den Schampus aufzureihen, stand ich ein bißchen im Abseits und fummelte an meinem kleinen Weltempfänger, um Kopenhagen zu finden. Gespannt lauschte ich auf das Rauschen und dann – der erste Schlag von der Kopenhagener Rathausuhr. Jetzt war für mich das neue Jahr da – egal was die Uhren in Berlin geschlagen hatten. Ich richtete mich auf und sang mit dem Rundfunkchor die dänischen Nationalhymnen. Wir haben zwei – eine blutrünstige Königshymne und ein liebliches Vaterlandslied. Danach kam noch das Kirchenlied – sei willkommen, Jahr des Herrn –, und ich war wieder für meine Familie und meine Gäste da. Obwohl ich mich sonst weder für besonders nationalistisch noch für besonders religiös halte, brauche ich das kleine Ritual – und ich brauche die kleine, sentimentale Träne, die dann über meine Wange rollt: Ach ja, noch ein Jahr vergangen.

Ob ich auch nächstes Jahr die Ruhe für mein Ritual finden werde? Nächstes Jahr, wenn es um die Jahrtausendwende geht und die Feiern ganz besonders großartig werden müssen. Dieses Mal haben wir ja eigentlich nur noch für nächstes Silvester geübt – und das hat was für sich: Alle Pannen wurden im voraus verziehen – egal ob Raketen versagten oder ob der Sekt lauwarm war. Hauptsache, es klappt nächstes Jahr. Es war auch nicht so wichtig, ob wir auf der Party ein blödes Kleid anhatten oder ob wir vielleicht überhaupt nirgendwo eingeladen waren – wenn nur zum nächsten Jahreswechsel alles stimmt.

Die Gelassenheit breitet sich womöglich über das ganze Jahr aus. Stellen Sie sich vor: Ein Jahr zum Üben wird uns gegeben. Wenn nicht alles mit dem Regierungsumzug im ersten Versuch gutgeht – wir nehmen es ganz entspannt, lächeln über die Pannen und haben ein Nachsehen mit den Politikern, die den langen Weg von Bonn nach Berlin ja auch geistig bewältigen müssen. Wenn unsere Kinder schlechte Noten bekommen – egal. Sie können ruhig sitzenbleiben, 99 zählt nicht richtig. Die Karriere kriecht auf Schneckenspur, und wir sind mit uns selber unzufrieden? Ach was – im neuen Jahrtausend wird alles anders, bis dahin nehmen wir's mit Ruhe. Vielleicht können wir sogar die Geduld und Einsicht so weit entwickeln, daß wir auch unseren Mitmenschen gegenüber freundlicher und toleranter werden – nur für das Probejahr 99. Wenn das klappt, verspreche ich, mit Freude auf meine Nationalhymne zu verzichten und gemeinsam mit euch allen ins neue Jahrtausend zu springen. Ingerlise Andersen

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