■ intershop: Soll man sich im Balkan einmischen oder nicht? Von Senada Marjanovic
Als ich aus Jugoslawien hierher nach Deutschland kam, fehlte mir am meisten meine Nachbarschaft, besonders mein Nachbar Safet. Jeden Abend hatten er und seine Frau Krach mit ihrem Sohn, weil dieser immer betrunken nach Hause kam. Safet klingelte an unserer Tür, meistens mit blutiger Nase und blutigen Händen und befahl: „Ruf die Polizei! Er will uns umbringen!“
Dann verschwand er hinter der eigenen Tür, um nach fünf Minuten wiederzukommen. „Habt Ihr die Polizei gerufen?“ schrie er wie am Spieß. „Nein!“ erwiderten wir. „Gut, sonst hätte ich euch jetzt umbringen müssen. Schließlich ist das unser Sohn. Eigenes Fleisch ißt man doch nicht.“
Dieses Spielchen dauerte jahrelang. Eines Tages fand man Safets Sohn in einer Mülltonne tot auf. Es habe sich von sich selbst erledigt, kommentierten die anderen Nachbarn. Man solle sich nie einmischen.
Ein paar Jahre später, es war in Sarajevo, vergaß ich diese Botschaft und mischte mich in einen Streit ein. Ein riesiger Mann schlug auf der Straße eine winzige Frau und deren Kind. Ich rief die Polizei. Die Frau verteidigte ihren Mann und beschwerte sich bei den Polizisten, daß ich ihren Mann angemacht hatte. Später erklärte mir dann der Polizist ganz freundlich: „Genossin, das ist doch der Balkan. Sie dürfen sich nicht einmischen!“
So war es damals, und heute ist es auf dem Balkan auch nicht anders. Die Philosophie, nach der man erzogen und aufgewachsen ist, verschwindet nie. In die Familienangelegenheiten darf sich keiner einmischen.
Manchmal sind ein Mann und eine Frau eine Familie, manchmal gehören dazu auch die Kinder, manchmal die Nachbarschaft, die ganze Stadt oder auch der ganze Staat. Man darf sich nie einmischen.
An meinen Nachbarn Safet habe ich seit langem nicht gedacht. Seit zwanzig Tagen geht er mir jedoch nicht aus dem Kopf.
Wenn Slobodan Miloevic sagt, die Nato dürfe sich nicht in den Kosovo-Konflikt einmischen, dann denkt die ganze serbische Nation wie er.
Vor ein paar Tagen sagte ein Serbe im Fernsehen: „Wir alle elf Millionen Serben heißen Slobodan Miloevic.“ Seitdem kann ich nicht mehr ruhig schlafen, denn ich weiß: „Auf dem Balkan darf man sich in die Angelegenheiten einer Familie nie einmischen!
Das weiß Slobodan Miloevic auch und spielt diese Karte bei seinen Landsleuten aus. Das wissen auch die Albaner und flüchten vor den Serben.
Was mich betrifft, habe ich hier im Westen gelernt: Wer sich einmischt, der hilft!
intershop erscheint in Zusammenarbeit mit dem Sender SFB 4 Radio MultiKulti
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen