inferno um sechs uhr morgens:
von JOACHIM SCHULZ
Meine theologische Bildung ist bescheiden, denn ich bin an der Nordseeküste aufgewachsen, und bekanntermaßen ist die Christianisierung Europas am diesem Landstrich vorbeigegangen. Trotzdem war ich mir sicher, dass uns die höheren Mächte unsere diesseitigen Verfehlungen erst nach unserem Ableben mit empfindlichen Strafen heimzahlen würden – im Klartext: erst Leben, dann Tod, dann Hölle.
Doch das war ein Irrtum.
Denn das Inferno ist mitten unter uns, und es beginnt präzise um sechs Uhr morgens mit dem wahnwitzigen Kreischen einer Kreissäge, die sich quer durch mein Schädelgebälk zu arbeiten scheint. Dabei ist der Kopf gar nicht beschädigt – die Säge aber treibt tatsächlich ihr markerschütterndes Unwesen, und zwar unten auf der Straße, wo sie von einem Beelzebub in Gestalt eines Straßenbauarbeiters zum Zersägen des Asphalts benutzt wird. Umringt wird er von einer Rotte anderer Quälkräfte, die auf den ersten Blick völlig tatenlos zu sein scheinen. In Wahrheit aber sehen sie immer wieder hinauf zu den umliegenden Häusern, und als endlich in jedem Fenster ein schwer zermürbter Anwohner erschienen ist, gibt der Chef des Haufens ein Zeichen, das „Pause! Frühstück fassen!“ bedeutet.
Insofern herrscht fürs erste wieder Stille. Doch das – wie man weiß – ist nur ein perfider Trick, denn wer sich jetzt noch einmal in die Daunendecke kuschelte, würde in zwanzig Minuten von der nächsten Attacke vollends erledigt werden. Infolgedessen beschließe ich, gleichfalls zum Frühstück zu schreiten. Auch das indessen erweist sich als problematisch: Kaum nämlich will ich den ersten Schluck Kaffee zu mir nehmen, kurvt draußen ein Bagger herum, sodass das ganze Haus erzittert wie beim Erdbeben von Lissabon und mir der Tasseninhalt im hohen Bogen übers Hemd schwappt und ich noch mal von vorn anfangen kann mit Waschen und Anziehen.
Zumindest aber begreife ich endlich, dass mich das Fatum nur deshalb zum Autorenberuf drängte, damit ich meiner gerechten Strafe nicht entgehe. Denn während die Nachbarn jetzt das Haus verlassen dürfen und ihrem Schöpfer dafür danken, in einem tristen Büro unter der Fuchtel eines fiesbärtigen Chefs einer sterbenslangweiligen Beschäftigung nachzugehen, muss ich mich an den Schreibtisch hocken und einen Tag lang unter der Marter von Asphaltsäge und Presslufthammer ächzen. Zum Schluss rollt auch noch die Teermaschine heran und erfüllt alles mit einem pestilenzialischen Gestank, und so gelobe ich, während ich röchelnd am Boden liege, den Rest meiner Tage ausschließlich gute Taten zu tun.
So einfach aber entkommt man dem Inferno nicht. Am nächsten Morgen schon kreischt die Kreissäge wieder und fräst an derselben Stelle noch einmal ein Loch in den Asphalt. Selbstverständlich glaube ich zunächst, dass man nur einen OP-Handschuh in der Grube vergessen habe.
Tatsächlich aber kehren die Folterknechte auch an den kommenden Tagen zurück, und endlich weiß ich, dass es nie mehr aufhören wird und ich getrost alle Hoffnung fahren lassen kann.
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