in fußballland : Krankhaftes Beflaggen
Christoph Biermann über die Liebe von Imran Ayata zu Galatasaray Istanbul
Am Tag nachdem Schalke in der Champions League gegen Fenerbahçe Istanbul gewonnen hatte, bekam ich eine SMS. „Schalke ole ole …“, hieß es da, aber die Kurzbotschaft feierte nicht etwa den Erfolg der Königsblauen, sondern die Niederlage ihres Gegners. Imran Ayata, der sie geschrieben hatte, ist sonst zu durchaus komplexeren Auskünften in der Lage. Immerhin ist er Geschäftsführer einer Kommunikationsagentur, die veritable Bundesministerien berät. Er hat zudem eine sehr schönen Sammlung von Kurzgeschichten geschrieben, die den tollen Titel „Hürriyet Love Express“ trägt und von so staunenswerten Typen wie Pokerci Ali bevölkert wird. Eine Story heißt „Liebe ist größer als Tito“, und dort wird zwischen der „Cruyff-Variante“ und der „alten britischen Schule des kick and rush“ bei der Eroberung von Frauen unterschieden.
Wenn es jedoch gegen Fenerbahçe geht, dann darf sich schon mal schlichter geäußert werden. Imran ist nämlich Fan von deren größten Rivalen, Galatasaray – und das schon seit fast drei Jahrzehnten. Damals machte er auf dem Umzug von Ulm, wo er geboren wurde, nach Ostanatolien, wo er in die Grundschule gehen sollte, einen Stopp bei Verwandten in Istanbul. In der Nachbarschaft hing eine riesige Fahne in Gold und Rot aus dem Fenster, weil man in Istanbul „zum krankhaften Beflaggen neigt“, wie Imran sagt. Der Sechsjährige war von den Farben hingerissen, von denen ihm der Nachbarsjunge erklärte, dass es die Farben von Galatasaray seien. Auch in Ostanatolien war Galatasaray offensichtlich ziemlich cool. Dort kam beim Kicken auf der Straße immer ein älterer Junge und teilte die Mannschaften ein. Er fragte: „Wer ist Sunnit?“ Wer aufzeigte, musste sich anhören: „Ihr seid Fenerbahçe.“ Offensichtlich war das nicht so toll, denn die Aleviten durften mit dem Bestimmer spielen, und der war für Galatasaray.
Also war dieser Klub schon früh im Herzen von Imran angekommen. Was er hingegen die „intellektuelle Zurechtzimmerung“ nennt, weshalb man also für Galatasaray sein sollte, das kam später. Während Fußballfans sonst oft besonders stolz darauf sind, wenn ihre Klubs als Arbeiterklubs gelten, führt Imran für Galatasaray nicht minder stolz das Gegenteil ins Feld. Der große Klub von der europäischen Seite Istanbuls ist nämlich aus einem Gymnasium hervorgegangen, das heute noch in der Türkei als Schule der Elite gilt. Galatasaray ist also nicht der Klub der kleinen Leute (die Rolle nimmt übrigens Besiktas ein), sondern der Verein des europäisch orientierten Bildungsbürgertums, auch wenn selbstverständlich nur eine Minderheit der Millionenschar von Fans dazugehört.
Als Imran mit zehn Jahren zurück nach Ulm kam, spielten ideologische Ausrichtungen noch keine Rolle. Es begann eine Fernbeziehung zu seinem Klub, die damals schwer zu führen war. Einerseits war Galatasaray gerade notorisch erfolglos, Jupp Derwall sollte erst 1984 eine Serie von 14 Jahren ohne Titel beenden. Vor allem aber waren in den Zeiten vor Internet und Satellitenfernsehen wacklige Kurzwellenübertragungen und türkische Zeitungen, die mit zwei Tagen Verspätung kamen, die einzigen Informationsquellen. Imran versuchte daher auch, sein Potenzial als Fußballfan beim örtlichen SSV Ulm, dem VfB Stuttgart oder sogar dem FC Bayern auszuleben. Zu einer Art zweiten Liebe wurde aber erst Eintracht Frankfurt, als er dort Ende der Achtzigerjahre zu studieren begann.
Im Herbst 1992 kam Galatasaray zum Uefa-Cup-Spiel nach Frankfurt, und aus politischen Gründen wollte er seiner ersten Liebe die Treue versagen. Die türkische Regierung versuchte Fußball damals nämlich zu instrumentalisieren, um von Menschenrechtsverletzung abzulenken. Die türkischen Fans sangen dazu im Waldstadion: „Europa, Europa, erhöre unsere Stimme, was du gerade hörst, sind die Schritte von Galatasaray, niemand kann es mit uns aufnehmen, schwules Frankfurt.“ Imran lehnte die untertänige Geste beim Verlangen nach Aufnahme in Europa genauso ab, wie es ihn ärgerte, dass gerade sein Klub für ein undemokratisches Regime warb. Doch als das Spiel angepfiffen wurde, jubelte er für Galatasaray. „Ich konnte einfach nicht anders“, sagte er. Die Wege des Fußballs sind so wenig gerade wie die des Herzens, weil sie Wege des Herzens sind.