in fußballland: CHRISTOPH BIERMANN über die Absteigbaren
Sterbende Hoffnung beim VfL
Mit Klaus war ich in längst vergessenen Zeiten, als noch der FC Homburg in der Bundesliga spielte, einmal ins dortige Waldstadion gefahren. Es war ein heißer Sommertag, und für den VfL Bochum ging es, wie immer, um alles. Unsere Reise war eine zu einem Außenposten des Fußballs, und als wir ins Ruhrgebiet zurückfuhren, schwitzten wir betroffen schweigend vor uns hin. Unsere Mannschaft hatte beim Absteiger auf die erbärmlichst vorstellbare Art und Weise verloren, und wir waren sicher, dass so auch unser Abstieg nicht mehr abzuwenden wäre. Doch es war ein Zeitalter, in dem sich der VfL Bochum, dem großen Houdini gleich, stets im letzten Moment seinem Schicksal entwinden konnte. Auch am Ende jener Saison rettete sich die Mannschaft durch zwei Spiele vor dem Abstieg, als sie in der längst abgeschafften Relegation zwischen erster und zweiter Liga erfolgreich war.
Klaus hielt zu jener Zeit und noch lange darüber hinaus eine bemerkenswerte Serie: Er hatte zehn, fünfzehn oder gar zwanzig Jahre lang kein Heimspiel des VfL Bochum verpasst. Ich erinnere mich nicht mehr, wann und unter welchen Umständen er eines Tages doch etwas Wichtigeres als ein Spiel im Ruhrstadion fand und ob es einfach etwas mit dem Älterwerden zu tun hatte oder den Zermürbungen durch die steigende Frequenz der Ligawechsel. Aber eigentlich kommt er immer noch zu jedem Spiel. Von daher war es für mich ein ganz besonderer Moment, als Klaus neulich vor einer Partie, die zurecht als letzte Chance im Kampf gegen den vierten Abstieg aus der Bundesliga apostrophiert worden war, auf mich zukam und sein Desinteresse bekundete. „Mir ist es fast schon egal, wie’s heute ausgeht“, sagte er, „früher habe ich mich tagelang geärgert, jetzt ist das mit dem Abpfiff schon fast vergessen.“ Er klang dabei weder kokett noch trotzig destruktiv, sondern gefasst und vernünftig. Außerdem wusste ich sofort, was er meinte.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt eine der im Pathos des Abstiegskampfs gerne benutzten Parolen. Nur, wir hatten keine Hoffnung mehr. Oder hatten im Laufe der Jahre die Orientierung verloren, was es denn für uns eigentlich noch zu hoffen geben sollte. Dreimal war der VfL Bochum nach Abstiegen direkt in die Bundesliga zurückgekehrt. Ganz so, als wäre das Houdini-Prinzip von einst fortgeschrieben worden. Alle glaubten, jetzt ist er endlich weg, da stand der VfL Bochum schon wieder vor der Tür. Staunende Gesichter, donnernder Applaus. Beim ersten Mal hatte dieser Zaubertrick für echte Begeisterung gesorgt, beim zweiten Mal zumindest noch für milden Beifall, beim dritten Mal hingegen war sein Gelingen eine Selbstverständlichkeit. Die damit verbundenen Mühen und Anstrengungen wollten wir entsprechend weniger anerkennen, die Enttäuschungen über die vorangegangenen Abstiege hingegen wogen immer schwerer.
In Wirklichkeit waren wir demoralisiert, weil sich Houdini als Sisyphos erwies. Das von Klaus behauptete Desinteresse war nur ein Versuch, sich dem Leiden an diesem Umstand nicht weiter auszusetzen. Die nächste Stufe wäre wahrscheinlich eine Art von Todeswunsch. Der VfL Bochum soll aufgelöst werden, denn gibt es den Klub nicht mehr, ist auch kein Anlass für falsche Hoffnungen mehr da. Dafür aber ein Gefühl der Befreiung.
Das entscheidende Spiel gegen den Abstieg wurde nicht gewonnen, das nächste auch nicht. Das Homburger Waldstadion war längst überall, und die Hintertür der Relegation fest verschlossen. Der vierte Abstieg innerhalb eines Jahrzehnt würde kommen – und würde mit Sicherheit der Abstieg zu viel sein. Vielleicht würde Sisyphos danach die Kugel wieder bis auf die Schwelle der Bundesliga zu rollen versuchen. Wenn das gelingen sollte, würden wir dem skeptisch gegenüberstehen. Würde nicht einmal das gelingen, wäre es noch schlimmer. Unser Klub konnte eigentlich nicht gewinnen. Wir konnten nicht gewinnen. Wen wundert es, dass Klaus sich da herauszuwinden versucht? Ich versuche es doch auch.
Fotohinweis:Christoph Biermann, 40, liebt Fußball und schreibt darüber
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