hörbuch: Armut mit Klavierbegleitung: Obdachlose auf der Winterreise
Die Idee, zugegeben, klingt doch recht kühn. Geschichten, Gedanken und Gefühle Obdachloser in Texte zu fassen und sie mit Schuberts „Winterreise“ zu verweben. Da hätte einiges schiefgehen können. Im Sinne von: Betroffenheitsprosa trifft romantische Existenznot mit Gefühlsspektakel als Ergebnis.
Aber nichts dergleichen. Stefan Weiller, der laut eigener Aussage „Kunstprojekte konzipiert, die soziale, gesellschaftspolitische Themen in neue Ausdrucksformen bringen“, hat sich von 2008 bis 2018 mit 400 Obdachlosen und sozial Ausgegrenzten in karitativen Einrichtungen von 32 Städten zu Gesprächen getroffen. Ihre Aussagen hat er zu schnörkellosen Miniaturen gebündelt.
Es sind nie Originalzitate, den Gesprächspartner*innen war es stets wichtig, anonym zu bleiben. Die „Deutsche Winterreise – Liederzyklus mit Geschichten von Menschen im Abseits“ ist, wie Weiller betont, ein Kunstprojekt und kein Ergebnis journalistisch-dokumentarischer Arbeit. In mehreren Städten hat er das Projekt als immer neu konzipierte Konzertlesungen auf die Bühnen gebracht.
Für einen besseren emotionalen Zugang wählte Weiller fast durchgehend die Ich-Form. In den Texten beschreiben die Betroffenen ihren Weg ins soziale Abseits, die Werdegänge wiederholen sich, Jobverlust, Alkoholsucht, zerbrochene Beziehungen. Sie handeln von der Scham, wenn die Mutter das Kind wegzieht, das über die lustigen Grimassen des Obdachlosen lacht.
Von Verschleierung, wenn die Obdachlose sich in der Bibliothek den Anschein gibt, wissenschaftlich zu arbeiten. Sie handeln von Ausweglosigkeit und Überlebenswillen. „Selbstmord ist keine Lösung. … Selbstmord ist eine Lösung. Dann findet dich jemand, und weiter geht’s.“
Das Sprecherensemble aus Birgitta Assheuer, Jens Harzer, Wolfram Koch, Helmut Krauss und Eva Mattes füllt die Texte mit Leben, mit sachlicher Bestimmtheit. Oftmals gehen die Texte ansatzlos in die Gedichte von Wilhelm Müller (1794–1827) über, die Franz Schubert 1827, ein Jahr vor seinem Tod, vertonte. Müllers poetischer Facettenreichtum von existenzieller Verzweiflung bis Lebensfreude spiegelt die emotionale Achterbahnfahrt, auf der sich die Befragten befinden, auf frappierende Weise.
Einer erzählt von dem Glück, einen Koffer zu besitzen. Nur wohin mit dem Schatz? Ein wahres Glück wäre es, einen Ort für den Koffer zu haben. Ein anderer überlegt, während er die gut situierten Leute an der Ampel beobachtet, dass er vielleicht einen abgelegten Pulli von ihnen trägt. „So mischen sich zwei Welten.“ Obdachlose aus Osteuropa erklären, warum es ihnen in Deutschland auf der Straße immer noch besser ergeht als in ihrem Heimatland.
Eine Frau erzählt, dass ihr, nachdem sie ihr Leben lang die Wohnungen anderer Leute geputzt hat, dennoch nur 150 Euro von der Rente zum Leben bleiben. „Armut ist nichts, wofür ich mich schämen muss. Ich schäme mich trotzdem.“ Die luzide von Hedayet Djeddikar am Klavier interpretierten Lieder verleihen der Aufnahme eine Dringlichkeit, die lange nachwirkt. Was bleibt am Schluss? Verstörung ist es nicht. Wut auch nicht. Eher die Frage, was getan werden kann, um einen Weg aus dem Abseits gangbar zu machen.
Einige anklingende Ideen, wie man den Teufelskreis von Arbeits- und Wohnungslosigkeit aufbrechen könnte, sind nicht neu, aber von ihrer Umsetzung weit entfernt. Möge Stefan Weiller mit der „Deutschen Winterreise“ nicht nur ein nachhallendes und respektförderndes Kunstprojekt geschaffen haben, sondern auch Menschen in entscheidenden Positionen zum Umdenken und Handeln anregen. Sylvia Prahl
Schubert, Müller, Weiller: „Deutsche Winterreise. Liederzyklus mit Geschichten von Menschen im Abseits“. CD, 82 Minuten, Speak Low, Berlin 2019
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