hörbuch: Eric Vuillard beschreibt Fundraising für die Nazis
Wie Bilder und Töne unsere Wahrnehmung von Ereignissen beeinflussen, ist hinlänglich bekannt. Erst einmal ins Bewusstsein eingedrungen, sind sie nur schwer zu revidieren. Dem französischen Schriftsteller und Regisseur Éric Vuillard gelingt in seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Buch „Die Tagesordnung“, die gängige Wahrnehmung des Aufstiegs der Nationalsozialisten zu dekonstruieren. „Er macht deutlich, dass inszenierte Aufnahmen aus deren Propagandaministerium noch heute die Grundlage für unser Verständnis von dieser Zeit darstellen“, wie es im Klappentext des Hörbuchs heißt. Nun ist Vuillard bekannt für die Methode, in seinen Schriften Eckpfeiler der Geschichte zu isolieren und sie so zu montieren, dass die Dinge von einer anderen, neuen Seite beleuchtet werden. Dabei bedient sich der gelernte Historiker versiert in der Werkzeugkiste des Films, schneidet bekannte Fakten gegen unkonventionelle Lesweisen des historischen Materials.
Zu Beginn von „Die Tagesordnung“ steht das am 20. Februar 1933 von den Nazis ausgerichtete Treffen mit 24 deutschen Firmenchefs von Krupp bis Quandt. So weit der knappe Geschichtsbucheintrag, Einsatz Vuillard: Mit weniger zugänglichen Fakten illustriert er die Ungeheuerlichkeit dieses Fundraising-Treffens und die Egomanie aller Beteiligten. Indem er sich die schriftstellerische Freiheit nimmt, Gesichtsausdrücke zu deuten oder Gedankengänge zu kennen, wird dieser historisch bedeutsame Tag wieder lebendig.
Hitler versprach den Unternehmern, würde er bei den Wahlen gewinnen, immense Zugewinne, doch für den Wahlkampf bräuchte er Geld. Die Ankündigung, dass es im Fall des Wahlsiegs keine weiteren Wahlen mehr geben werde, war den Industriellen schlicht egal, sie spendeten Millionen Reichsmark und ebneten den Weg in die NS-Diktatur. Vuillard nennt die Firmen, die hinter den Personennamen stehen, und arbeitet heraus, dass deren Produkte auch heute noch unseren Konsumalltag bestimmen.
Wenn er am Ende wieder den Bogen zum Treffen mit den Industriellen schlägt, führt er die Lüge der „Stunde null“ nach 1945 vor Augen: Die Unternehmer und ihre Nachfahren haben im Nachkriegsdeutschland weiterproduziert, erst nach zähen juristischen Auseinandersetzungen Zwangsarbeiter beschämend gering entschädigt, viele Wirtschaftsbosse wurden mit Bundesverdienstkreuzen ausgezeichnet.
Mit viel Sarkasmus beschreibt Vuillard das menschliche Versagen des österreichischen Kanzlers Schuschnigg, dem Hitler bei einer Unterredung auf dem Berghof quasi „Die Tagesordnung“ des Anschlusses Österreichs diktiert; wie sich der englische Premier Chamberlain bei einem Dinner von dem deutschen Außenminister Ribbentrop vorführen lässt. Besondere Ironie kommt im Kapitel „Blitzkrieg“ zum Ausdruck, wenn Vuillard genüsslich den durch diverse Pannen ins Stocken geratenen Einmarsch der deutschen Truppen 1938 in Österreich auswalzt.
Die literarischen Nuancen, die „Die Tagesordnung“ zu einer einprägsamen Geschichtsstunde machen – von poetischer Prosa, über nüchterne Schilderung bis hin zum erzählenden Sachbuch –, hat Nicola Denis treffgenau ins Deutsche übertragen, und der österreichische Schauspieler Michael Rotschopf streicht diese Details mit viel Feingefühl heraus.
Spielerisch wechselt er den Sprachduktus auch innerhalb eines Satzes und führt unsere Anfälligkeit vor Augen, auf Bilder und Töne hereinzufallen, wenn er betont sachlich Vuillards Frage verliest, ob es sein könnte, dass der frenetische Jubel, mit dem die Wochenschauen unterlegt sind, wirklich so stattgefunden hat, oder ob es sich nicht um die immer gleiche Tonspur handeln könnte.
Sylvia Prahl
Eric Vuillard: „Die Tagesordnung“, 1 MP3-CD, 177 Minuten, Speak Low, Berlin
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