heute in hamburg: „Es gibt nicht genug Therapieplätze“
Vortrag „Wie gut können wir Wahnvorstellungen psychologisch erklären?“: 19.30 Uhr, Großer Grasbrook 15-17 im Hörsaal „Goldenes Ei“, Anmeldung unter: ringvorlesung@medicalschool-hamburg.de
Interview Inga Kemper
taz: Frau Lincoln, wo beginnt der Wahnsinn?
Tania Lincoln: Wahn beginnt da, wo jemand eine Vorstellung entwickelt, die von anderen nicht geteilt wird und die auch nicht korrigierbar ist. Das sind ausschließlich Themen, die mit der Person selbst zu tun zu haben. Auftreten kann zum Beispiel das Gefühl, verfolgt, ausgelacht, gemobbt zu werden oder eine besondere Person zu sein.
Laut einigen Studien sind zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung von Wahnideen betroffen. Kann da von einer Volkskrankheit gesprochen werden?
Nein. Was diese Studien eher demonstrieren ist, dass man keine klare Unterscheidung treffen kann zwischen Menschen, die wirklich einen klinischen Wahn haben, und dem Rest. Es gibt vielleicht sogar 25 Prozent, die die Frage, ob sie ab und zu denken, dass andere ihnen etwas Böses wollen, bejahen. Das sind paranoide Tendenzen, die aber nicht pathologisch sind. Deswegen würde ich nicht von einer Erkrankung sprechen.
Ab wann werden Wahnvorstellungen denn pathologisch?
Wenn Verhalten wegfällt, was vorher noch da war und wenn es einen Leidensdruck gibt. Um von Schizophrenie zu sprechen, müsste noch mehr dazu kommen als nur Wahn, zum Beispiel Stimmen hören, starker sozialer Rückzug oder Antriebslosigkeit.
An welcher Form der Wahnvorstellung leiden VerschwörungstheoretikerInnen?
Tania Lincoln, 47, ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Hamburg.
Es gibt ähnliche Muster, zum Beispiel, dass Gegenargumente hingedreht werden – trotzdem haben Verschwörungstheoretiker nichts Klinisches. Verschwörungstheorien werden geteilt, das sind keine Überzeugungen von Einzelnen wie beim Wahn. Selbst wenn jemand mit Größenwahn denkt, er sei Jesus, teilt er das nicht mit anderen.
Was läuft im aktuellen Therapiekonzept zum Wahn falsch?
Wenn man auf die Leitlinien guckt, läuft gar nicht so viel falsch, weil kognitive Verhaltenstherapie auch für Arbeit mit Wahn empfohlen wird. In der Praxis läuft leider viel falsch, weil die Patienten die Angebote nicht bekommen. Oft wird in den Kliniken zu einseitig auf medikamentöse Therapie gesetzt. Es gibt nicht genug Therapieplätze und das ist schade. An der Hochschulambulanz bieten wir aber Therapieangebote für Psychosen an, die wir auch erforschen.
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