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heute in Bremen„Kopfprämie von zehn Mark“

Vortrag Der Psychiater Friedrich Leidinger über die Ermordung psychisch Kranker in der NS-Zeit

Friedrich Leidinger

61, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Klinik Langenfeld. Er erhielt 2010 das Kavalierskreuz der Republik Polen.

taz: Herr Leidinger, wann begann die Ermordung psychisch Kranker?

Friedrich Leidinger:Am 1. September 1939 hat Hitler per Erlass angeordnet, sogenanntes „lebensunwertes Leben“ in Polen zu vernichten. Freischärler und SS-Angehörige zogen durch Altenheime und Kliniken und massakrierten Kranke gegen eine Kopfprämie von zehn Reichsmark. Ab Oktober wurde Gas als Mordwaffe eingesetzt. Das Personal der Vergasungsanstalten war so erprobt, dass große Teile später an der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden mitwirkten.

Wurde so das Gas als Methode zum Massenmord entwickelt?

Die Krankenmord-Aktion geht nahtlos in die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung über. Die Vergasungstechnologie wurde in der Ermordung psychisch Kranker entwickelt. Sie wurden auf luftdicht verschlossenen LKW-Ladeflächen durch Kohlenstoffmonoxid getötet. In 18 Monaten wurden so etwa 80.000 Menschen ermordet.

Wie sind Sie mit dem Thema in Berührung gekommen?

1980 habe ich als Facharzt für Psychiatrie angefangen. Einer meiner Patienten war während des Krieges in einer Anstalt, in der allein im Jahr 1945 über 10.000 Kranke ermordet wurden. Er war da 15 Jahre alt und hat nur überlebt, weil er die Leichen weggetragen hat. Für das, was er durchmachen musste, hat er nie Anerkennung oder Entschädigung erhalten. Andere PatientInnen wollten damals nicht mit mir auf Ausflüge oder Busfahrten kommen. Sie waren dabei, als 40 Jahre zuvor Kranke mit LKW-Abgasen ermordet wurden und konnten nicht zwischen mir und den ÄrztInnen früher unterscheiden.

Wie reagieren Ihre KollegInnen auf solche Berichte?

Die meisten haben davon nur vage und unvollständig gehört. Die Verantwortlichen für den Massenmord waren erfolgreiche WissenschaftlerInnen mit einem normalen Leben. Viele haben ihre Karrieren nach dem Krieg fortgesetzt. Jahrzehntelang wurden diese Verbrechen verschwiegen oder beschönigt.

Wie steht es um die Aufklärung?

Als ich vor über 35 Jahren damit angefangen habe, gab es nur einen kleinen Kreis engagierter ÄrztInnen. Mittlerweile forschen viele WissenschaftlerInnen daran mit. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie finanziert jetzt ein großes Aufklärungsprogramm und distanziert sich endlich von den WissenschaftlerInnen, die an den Massenmorden mitgewirkt haben. Das waren nicht einfach nur KriegsverbrecherInnen, ÄrztInnen haben ihre PatientInnen ermordet! Am Beginn dieser Krankenmorde stand immer die Idee der Eugenik, etwas „Besseres“ zu machen, etwas „Größeres“ zu tun. Im Namen der Wissenschaft können die schrecklichsten Verbrechen geschehen.

Interview: Sebastian Krüger

Vortrag „Vom Krankenmord zum Holocaust“: 18 Uhr, Landeszentrale für politische Bildung, Birkenstr. 20/21, Eintritt frei

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