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Archiv-Artikel

herr tietz macht einen weiten einwurf „Ich fahr schon mal vor“

FRITZ TIETZ über sich, Erik Zabel, Werder Bremen und das Bezirksligaspiel zwischen demSC Lüstringen und SV Hesepe

Ein Spiel dauert 90 Minuten. Dieser Lehrsatz gilt nach wie vor als einer der unumstößlichsten im Sport. Seine Wahrhaftigkeit offenbart sich denn auch immer wieder neu, wie die Mannen des niedersächsischen Fußball-Bezirksligisten SV Hesepe bestätigen können. Bis zur 89. Minute lagen sie gegen den bis dahin ungeschlagenen SC Lüstringen mit 2:1 in Front, als der Schiedsrichter einen Elfmeter gegen sie verhängte. Lüstringens letzte Chance. Hesepes Torwart aber hielt das Ding, und als er kurz darauf einen Pfiff hörte, knallte er den Ball siegesgewiss ins eigene Tor. Zu seinem Entsetzen musste er aber feststellen, dass der vermeintliche Abpfiff nicht vom Schiri, sondern von einem Zuschauer stammte. So stand es 2:2, und als der Schiri kurz danach tatsächlich abpfiff, hatte der SC Lüstringen „seine erste Saisonniederlage mit viel Glück verhindern können“.

So lakonisch kommentierte jedenfalls ein Augenzeuge diesen Vorfall, der allerdings einige Jahrzehnte zurückliegt; ich entdeckte diesen historischen Spielbericht neulich auf einem vergilbten Zeitungsausriss, als ich mein Ausschnitte-Archiv entrümpelte. Und ihn zum Glück nicht entsorgte – kann uns doch Hesepes Schicksal auch heute noch anschaulich lehren, dass man keinen Tag vor dem Abpfiff loben, die Saison nicht voreilig abhaken und sich Werder Bremen erst nach dem letzten Spieltag als deutscher Fußballmeister wähnen sollte.

Kein Wunder, dass Werder-Trainer Thomas Schaaf letzten Sonntag noch griesgrämiger als sowieso schon dreinschaute, als er von vorzeitigen Meisterschaftsgesängen seiner Spieler erfuhr. Vielleicht erzählt er seinen Leuten mal, wie es einst dem SV Hesepe erging. Oder was unlängst Erik Zabel passierte. Der hatte beim Rad-Klassiker Mailand–San Remo am Ende vorne liegend vorzeitig jubelnd die Arme hochgerissen und damit dem heranhechtenden Spanier Oscar Freire noch einen zentimeterknappen Vorsprung im Ziel ermöglicht. Was für ein selten dämlich verschenkter Erfolg!

Aber ich gebe freimütig zu: Auch ich saß unlängst dem Irrtum auf, einen Sieg bereits sicher in der Satteltasche zu haben, um dann doch noch gnadenlos abgebügelt zu werden. Es geschah beim ersten Fahrrad-Ausritt dieses Jahres. Ich fuhr zunächst die Flachetappe von Hittfeld nach Fleestedt. Wagte mich dann sogar an den fiesen Anstieg im Fleestedter Forst und strampelte auch noch den Glüsinger Berg hinauf, ehe ich in rasanter Schussfahrt runter nach Meckelfeld düste, von wo ich dann flotten Tritts über Karoxbostel zurück nach Hittfeld rollte. Alles lief bestens. Ich fühlte mich stark. Auf der Karoxbosteler Straße sah ich knapp 200 Meter vor mir einen Radler auf seinem offensichtlich edlen Sportgerät fahren. Vom Ehrgeiz und meiner guten Tagesform beflügelt beschloss ich, ihn einzuholen, was mir aber trotz deutlich erhöhter Trittfrequenz zunächst nicht gelang. Erst auf dem Anstieg vor Hittfeld verringerte sich der Abstand zusehends. Schon bald flog ich an dem, wie ich jetzt erstaunt gewahrte, schon recht betagten, gut 70-jährigen Radler vorbei, beim Überholen nicht versäumend, ihn kurz und – wie ich im Nachhinein resümierte – vielleicht um eine Spur zu überheblich zu grüßen, indem ich ihm zuraunte: „Ich fahr schon mal vor.“

Beschwingt von meiner erfolgreichen Aufholjagd ging ich ungebrochenen Tempos die letzten Meter der Steigung an, fest davon überzeugt, dass der Alte nur mehr mein Hinterrad sehen und ich ihm spätestens bei der anschließenden Abfahrt vollends enteilen würde. Doch denkste. Noch vor der Anhöhe hatte er mich eingeholt. Völlig überraschend tauchte er neben mir auf, blieb kurz an meiner Seite, um mit den Worten „Na, wollen doch mal sehen, wer schneller ist!“ so was von abzuzischen, dass ich nur noch staunen konnte. Da half auch ein größerer Gang nichts mehr, und als ich mich endlich in die Abfahrt nach Hittfeld hineinstürzen konnte, war er schon längst um die nächste Kurve.