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herr tietz macht einen weiten einwurfFRITZ TIETZ über völkische Blechmusiken

Tränen mit Tschingderassabum

Was im Radio der häufig nicht enden wollende Applaus in Mitschnitten klassischer Konzerte, ist in Fernsehübertragungen von Sportereignissen das Abspielen von Nationalhymnen: eine akustische Zumutung und Vergeudung zudem wertvoller Sendezeit. In den nächtlichen Sendungen von den Leichtathletikweltmeisterschaften neulich aus Kanada wurde dieser Gnadenlosigkeit einmal mehr ausgiebigst gefrönt. Immer wieder erklangen da diese Hymnen. Minutenlang mitunter liefen (statt halb nackte Athletinnen um die Wette, weswegen man sich schließlich zugeschaltet hatte), andauernd bloß solche völkischen Musiken vom Band, oder sagen wir lieber blecherner und tschingderassabumsfideler völkischer Krach dazu, denn aus nichts anderem werden Nationalhymnen normalerweise zusammengehackt. Gibt’s da womöglich ein internationales Übereinkommen drüber?

Obendrein kommt hymnischer Lärm über den Fernsehapparat allenfalls in LowFi-Qualität rüber: scheppernd und mit immer viel zu vielen Höhen drin. Livebilder vom Mond senden, das konnten sie schon vor Jahrzehnten. Aber einen ordentlichen Hymnenton von einem irdischen Sportplatz aus in unsere Wohnzimmer übertragen, das kriegen sie bis heute nicht hin. Die Gänsehaut, die manch einen Fernsehzuschauer hymnenbedingt ankriecht, wird vermutlich bloß von diesen zahnarztbohrerartigen Tönen erzeugt und weniger von irgendwelchen großen nationalen Gefühlen.

Von Gefühlen überwältigt scheinen hingegen fast immer die Sportler zu sein, wenn ihre Landeshymne erschrillt. Angesichts der hohen Dichte solcher Gefühlsausbrüche muss man allerdings den Verdacht hegen, dass die Sportler von den Sportfernsehrechteinhabern dazu verpflichtet werden. Denn auf Gefühlsüberwältigte, da stehen die vom Fernsehen bekanntlich total. In nasenhaarscharfen und hautporentiefen Großaufnahmen zeigen sie denn auch bei den Siegerehrungen stets hymnenlang und unerbittlich, wie die Unterlippen der Sieger beben, ihre Nasen triefen und ihnen Körperflüssigkeit aus den Augenwinkeln quillt. Mir ist das alles zu intim. Ich will nicht wildfremden Menschen beim Weinen zusehen müssen. Sportler sollen laufen, springen oder Gegenstände schleudern. Nicht heulen.

Ganz unangenehm wird’s, wenn einer offensichtlich Mühe hat, seiner Tränenpflicht nachzukommen, so wie Michael Schumacher neulich während der italienischen Hymne nach seinem Gewinn der Formel-1-Weltmeisterschaft in Budapest. Das Rennen zuvor schien ihm weniger Anstrengung abverlangt zu haben als sein höchst augenreibender Kampf um ein kleines bisschen feuchten Schimmer. Am Ende reichte es mal gerade für ein, zwei Tröpfchen. Wäre ich Fernsehrechteinhaber, würde ich Sportler auf mindestens so viele Tränen verpflichten, wie die Geldsumme, die sie verdienen, Stellen vor dem Komma hat. Bei einem Salär von einer Milliarde müsste Schumacher dann mindestens zehn Tränen pro Hymne zustande bringen, also zusammen zwanzig, da nach den Siegen des Kerpener Ferrari-Piloten nicht nur die italienische, sondern auch die deutsche Hymne ertönt.

Ein bemerkenswertes Phänomen ist auch, dass während der Hymnen sämtliches Sportreportergeplapper vollkommen verstummt. Kaum krächzt einer Hymne erster Ton, schweigen die Fachkräfte an den Mikrofonen stille, unterbrechen bisweilen ihre Expertengespräche mitten im Satz, lassen abrupt den Schwafelhammer fallen. Sie täten das aus Ehrerbietung und aus Achtung vor dem feierlichen Moment, heißt es. Ich stelle mir allerdings vor, dass Fernsehkommentatoren die Hymnen-Auszeiten eher deshalb so strikt einhalten, weil sie dann kurz eine rauchen, einen Schluck trinken oder schnell mal verschwinden können. Bei den Dienstzeiten, die ihnen während solcher Langzeitereignisse wie einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft abverlangt werden, kommen sie doch anders gar nicht auf ihre arbeitsrechtlich vorgeschriebenen Ruhezeiten.

Eigentlich sind Hymnen bloß Pinkelpausen.

Fotohinweis: Fritz Tietz, 42, lebt als Nachfahre ostpreußischer Einwanderer in der Nordheide und treibt gelegentlich Sport.

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