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hamburger szene von Lena KaiserDeutsche unter sich

Ist es zu viel verlangt, für einen blinden Mann aufzustehen?

Es ist Samstagvormittag, kurz vor zehn. Der IC von Bremen über Hamburg nach Kiel ist mit Wochenendreisenden und Fußballfans aus Köln gut gefüllt. Ich ergattere einen der letzten freien Plätze an einem Stehtisch im Speisewagen. Lieber für drei Euro einen Cappuccino bestellen als 4,50 Euro für eine dumme Sitzplatzreservierung in den Wind schießen, denke ich mir. Da höre ich, wie die Kellnerin unwirsch mit einem jungen Mann, offenkundig einem Engländer, spricht.

Gerade noch hatte er sich höflich auf Englisch erkundigt, wo denn sein Sitzplatz zu finden sei. Da sagt sie: „Let me see your reservation.“ Und dann noch unwirscher: „You don’t have a reservation!“ Der Mann widerspricht und beteuert mit leiser Stimme, ganz sicher eine Reservierung zu haben. Die Kellnerin runzelt die Stirn und schaut erneut auf den Din-A4-Ausdruck des OnlineTickets. „Yes, in Wagen 6“, räumt sie ein – und wendet sich ab.

Kurz darauf erklingt die Durchsage: „Liebe Fahrgäste, bitte beachten Sie, dass die Wagen dieses IC in umgekehrter Wagenreihung verkehren.“ Ich wundere mich noch, dass diese unfreundliche Frau dem Engländer nicht wenigstens diese für ihn ja nicht unerhebliche Information mit auf den Weg gegeben hat, da fällt mir der Mann mit Blindenstock auf, der gerade, kurz vor Harburg, das Bordrestaurant betreten hat.

Er geht von einem Tisch zum nächsten und fragt, „ob hier vielleicht noch ein Platz frei ist“. Ein Stehplatz kommt für ihn nicht infrage.„Nein.“ „Nein, leider nicht.“ „Nein, alles besetzt. Tut mir leid“, antworten die Fahrgäste an den Tischen. Könnte er sehen, wüsste auch er, dass das gelogen ist. Denn an allen Vierer-Tischen sitzen jeweils gerade mal zwei Personen am Gang. Ein bisschen rücken hätte gereicht. Aber selbst wenn – wäre es zu viel verlangt, für einen blinden Mann aufzustehen?

Der Mann mit dem Stock, scheint solche Situationen schon öfter erlebt zu haben. Jedenfalls lässt er sich davon nicht beirren und bestellt sich eine Portion Nürnberger Bratwürste. Ein anderer Mann, der die Situation beobachtet hat, kommt zu ihm gelaufen und sagt, er habe eine Idee. Ich höre nicht, was sie sagen. Dann gehen sie zusammen Richtung 1.-Klasse-Abteil. So sind sie, die Deutschen, denke ich mir und gehe mit Fernweh zur Arbeit.

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