grauzone: DANIEL WIESE über größte Deutsche und andere Norweger
Meeresforscher im Strom der Zeiten
Neben dem Haus meiner Bekannten in der Prenzlauer Allee gibt es eine Kneipe, vor der oft kahl geschorene Jugendliche herumstehen. Sie beschimpfen die Passanten, und weil sie kahl geschoren sind und Springerstiefel anhaben, gehen die meisten weiter und tun so, als ob sie nichts gehört hätten. „Deutschland!“, brüllen die Jugendlichen und trinken Bier aus Dosen.
Meine Bekannte glaubt, dass die Jugendlichen Nazis sind. „Da müsste man was gegen unternehmen“, meint sie. Zum Glück sind solche Vorkommnisse selten in Prenzlauer Berg. In dem Café, in dem meine Bekannte arbeitet, gibt es keine kahl geschorenen Jugendlichen. Die ernsten jungen Männer, die nachmittags an den Tischen sitzen und Latte Macchiato trinken, sind Schriftsteller oder Schauspieler. Das glaubt jedenfalls meine Bekannte, die mitbekommen hat, dass manchmal einer von den ernsten jungen Männern interviewt wird.
Einmal saß ich an der Theke, als eine Gestalt zur Tür hereinschwankte. Sie trug einen weiten Mantel und setzte sich mit einem Schnaufen neben mich. Was sie für Bier hätten, wollte die Gestalt von der Bedienung wissen. Wie sich herausstellte, hieß der Kunde Harald, ein Norweger und Meeresforscher von Beruf. Bereits beim ersten Bier wurde er sehr gesprächig.
Die Kultur, erklärte er, sei keineswegs von Süden nach Skandinavien gekommen, sondern von Osten, aus dem asiatischen Raum. Für diese These sprächen auch gewisse Meeresströmungen. Die meisten dächten, dass die Zivilisation von den Griechen und Römern komme, aber im Ursprung sei Skandinavien und so seine Heimat Norwegen nicht europäisch, also eigentlich kein Teil des Abendlandes.
Harald trank mit atemberaubender Geschwindigkeit, und je mehr er trank, desto wilder wurden seine Erzählungen. Er habe nichts gegen die Deutschen, versicherte er und schlug mir auf die Schulter. Im Krieg habe er die Deutschen erlebt, aber das sei eben der Krieg gewesen. In Norwegen würden oft schaurige Geschichten von dem Hunger erzählt, den die Bevölkerung unter der deutschen Besatzung leiden musste, dabei gebe es in Norwegen doch genug Fisch. Seine Familie jedenfalls habe sich von Fisch ernährt, er habe diese Jahre in guter Erinnerung.
Während Harald redete, röteten sich die Äderchen in seinem Gesicht, und seine Zunge wurde schwer. Er habe die Deutschen immer bewundert, lallte er, die Deutschen hätten Kultur. Nicht umsonst sei auch er, Harald, mit einer Deutschen verheiratet.
Er trage sich überhaupt mit dem Gedanken, nach Berlin zu ziehen. Als Meeresforscher habe er von der Welt genug gesehen, aber Berlin würde ihn noch reizen. Vor allem die Friedhöfe in Berlin finde er großartig. Von seiner Wohnung könne er auf einen sehen, den müsste ich mir auch mal anschauen, wirklich großartig, diese Grabdenkmäler.
Allmählich schien mein Meeresforscher wirklich betrunken zu sein. Wer für mich der größte Deutsche sei, fragte er lauernd. Er wisse, die Deutschen dürften darüber nicht reden, als Norweger habe er es da einfacher. „Der größte Deutsche“, Harald richtete sich auf, „war Hindenburg.“ Offenbar war er jetzt beim Ersten Weltkrieg gelandet, irgendwelche Meeresströmungen hatten ihn durch die Zeit gespült. „Hindenburg!“, rief Harald. Dann senkte er die Stimme. „Und Goebbels.“
Aus den ernsten jungen Männern im Café waren inzwischen lauter Pärchen geworden, die von dem Gespräch zum Glück nichts mitkriegten. Harald zog seinen weiten Mantel an und bezahlte. Dann schwankte er in die Kälte hinaus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen