gottschalk sagt : Als aufmüpfig noch in war
CHRISTIAN GOTTSCHALK: Die Kolumne am Donnerstag
Jedes Jahr das Gleiche. Vor dem Hauptquartier der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ (GfdS) in Wiesbaden steht ein verlorenes Häuflein und wartet auf die Entscheidung über das „Wort des Jahres“.
Wir sind die letzten Hüter der deutschen Sprache: der weise Leitartikler des „Mehringstädter Boten – Der Heimatzeitung für die Samtgemeinde Mehringstadt und die Gemarkungen Mehringstadt (Fluss) und Mörpeldorf“, ein Herr mit schlohweißem Haar, der aussieht wie Erich Böhme in sympathisch. Die Fahrerin und Bibliotheksleiterin des Bücherbusses im Jümme-Leda-Kreis, eine ebenso streitlustige wie feingliedrige Lyrikerin mit einem Hang zu albernen Haarspangen. Ein längst vergessener Liedermacher, eine junge Altphilologin mit New-Wave-Frisur, drei „Blumfeld“-Fans aus Bielefeld („Aber mehr so wegen der alten Sachen“), der Träger des „Kabarettpreises der evangelischen Jugendarbeit in Norddeutschland“ und die ungepflegten Jungs von onlineantiquariat.de, die immer Kaffee für alle mitbringen. Ein paar Leute, die ich nicht kenne. Und ich.
Es gibt unter uns zwei verschiedene Strömungen. Der Leitartikler ist der Chefdenker jener Schule, die sich der „GsdF“ bedingungslos unterwirft, ja selbst deren unmögliche Formulierung, gewählt würden „verbale Leitfossilien eines Jahres“, durchgehen lässt. Die Bibliothekarin dagegen ist unbestrittene Anführerin der „Ästheten“, die Wert auf den Klang, die Lustigkeit, die Schönheit eines Wortes legen, die schöpferische Leistungen belohnt wissen wollen, die unsere Sprache reicher machen. Ihren letzten Sieg feierte diese Fraktion 1971, als „aufmüpfig“ das Wort des Jahres wurde.
Schließlich tritt der Vorsitzende der Gesellschaft, Prof. Dr. Rudolf Hoberg (Darmstadt), vor die Drehtür. Er räuspert sich gekünstelt und verkündet: „Das Wort des Jahres ist: ‚Das alte Europa‘“.
„Ihr selbstgefälligen, inkontinenten Oberstudienräte!“ ruft die Bibliothekarin, „Ihr habt Euch doch nur selbst gewählt!“ Sie sieht toll aus, wenn sie wütend wird. Danach gehen alle zum fraktionsübergreifenden Kaffee-mit-Cognac-Trinken im „Haus Hannover“ in der Nähe des Wiesbadener Hauptbahnhofes. Bald diskutieren wir, ob Platz sieben „Steuerbegünstigungsabbaugesetz“ nicht als Zugeständnis an die „Ästheten“ verstanden werden kann.