: geläufig So lang nur klagen
„Du sollst, bin ich hinweg, so lang nur klagen, / als du die Glocke hörst, die düstere, vom Turm; / so lange, als sie braucht, der Welt zu sagen: / Der bei dir wohnte, ging und wohnt beim Wurm. // Dies schreibe ich, doch du, hast du’s gelesen, / vergiss, wer’s schrieb. Denn sieh, ich liebe dich: / ich wollt, ich wäre nie in deinem Sinn gewesen, / wenn, da du mein gedenkst, dich Gram beschlich.“ Wenn der Durchschnittsgermanist erfährt, dass diese Zeilen aus der Feder von Paul Celan stammen, so löst dies bei ihm gleich einen merkwürdigen Interpretierzwang aus – er wird versuchen, in diesen Worten die Lebens- und Leidensgeschichte des Autors Paul Celan wiederzufinden, der 1920 als Paul Antschel geboren wurde, die Nazis knapp überlebte, einer der berühmtesten Dichter der Welt wurde und sich 1970 in der Seine ertränkte. Doch dieser Germanist wird sich hier vergebens abmühen: Diese Zeilen sind Teil einer Übertragung des Sonetts LXXI von William Shakespeare. Der multilinguale Celan nämlich hat sich auch als Übersetzer sehr verdient gemacht, hat Emily Dickinson, Fernando Pessoa, Ossip Mandelstamm, Giuseppe Ungaretti, Sergej Jessenin oder Henri Michaux zum Teil zum ersten Mal übersetzt, also einen Großteil der Vorbilder und AkteurInnen der klassischen Moderne – und dazu eben auch die Sonette von Shakespeare. Blanche Komerell und Manuel Dolderer werden heute Abend im Literaturhaus aus diesen Übertragungen vorlesen, und zeigen, dass nicht jedes Gedicht verlieren muss, wenn es in eine andere Sprache übersetzt wird. SUN
Literaturhaus, 20 Uhr
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