geht’s noch?: Leere Glaubensformeln
Das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche findet, dass ein Gesetzesvorhaben gegen häusliche Gewalt ausländische Intervention sei. Und er sagt, die Menschen sollten lieber beten
Bei seiner diesjährigen Weihnachtsansprache am 6. Januar hatte Kyrill I., das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, mal wieder besonders lebensnahe Ratschläge auf Lager: Die Menschen sollten auf Komfort verzichten und nicht versuchen, es dem römischen Vasallenkönig Herodes gleichzutun, für den eigener Wohlstand an erster Stelle gestanden habe. Stattdessen sollten sie lieber beten – für „eine Stärkung der Einheit der Orthodoxie und der Liebe“.
So manch ein(e) Gläubige(r) dürfte diese Einlassungen, die der Putin-Sender Rossija 1 in den Äther pustete, mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis genommen haben. Welcher Komfort? Offiziellen Angaben zufolge leben rund 21 Millionen Menschen in Russland unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend. Das bedeutet, bei umgerechnet 160 Euro Monatsgehalt (RentnerInnen sind mit knapp 120 Euro dabei) reiben sie sich im Dauerkampfmodus ums Überleben auf, wobei Gottvertrauen an diesem erbärmlichen irdischen Dasein kaum etwas ändern dürfte.
Doch nicht nur Konsumverzicht liegt dem Kirchenmann am Herzen. Auch um das Schicksal der Familie macht Kyrill sich Sorgen. Anlass ist ein Gesetz zur Vorbeugung gegen häusliche Gewalt, das dem Unterhaus, der Duma, ab Ende Januar zur Beratung vorliegt. Hier sieht der 73-Jährige wieder einmal äußere Dämonen am Werk. Die Verabschiedung derartiger Gesetze schaffe im Bewusstsein der Abgeordneten eine Abhängigkeit von ausländischen Neuerungen und befördere den Wunsch, russische Gesetze in Einklang mit dem zu bringen, was in anderen Ländern passiere. „Wir müssen zuallererst die Familie schützen. Jede Einmischung von außen kann negative Konsequenzen haben“, sagte Kyrill.
Ein äußere Einmischung brauchen viele Russen nicht, um Hand an ihre Partnerinnen zu legen. Das schaffen sie allein. Nach Angaben der Juristin Aljona Popowa würden 14.000 Frauen jährlich getötet und würden 16 Millionen Opfer häuslicher Gewalt. 70 Prozent der Befragten einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM finden das geplante Gesetz unerlässlich.
Und Kyrill? In einer Familie, in der sich beide (Subtext: Mann und Frau) einander hingäben und die Interessen des anderen jeweils lebten, könne es keine physische Gewalt geben. Anstatt fromme Sinnsprüche von sich zu geben, sollte er die reale Gewalt lieber ernst nehmen und sich auch der Armut widmen. Bloße Glaubensformeln werden an diesen unschönen Realitäten nichts ändern. Barbara Oertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen