gaza-tagebuch: Ich denke nur an das Grab meines Vaters
An diesem Donnerstag bin ich um fünf Uhr früh aufgewacht. Normalerweise ist es ruhig um diese Zeit, aber nicht heute: Kaum jemand um mich herum hatte in dieser Nacht nicht geschlafen – nachdem der US-Präsident Donald Trump einen Waffenstillstand verkündet hatte. Die Menschen waren aufgeregt, begannen zu planen: Wann würden sie in ihre Heimatgebiete in Gaza zurückzukehren?
Viele strahlten vor Freude. Doch meine Gedanken waren woanders: Ich hatte Angst, glücklich zu sein. Und wieder enttäuscht zu werden.
Ich erinnerte mich an die Waffenruhe im vergangenen Winter, wie groß die Hoffnungen waren: Damals war ich glücklich, weil meine Familie und ich am Leben geblieben waren. Wir hatten diesen Krieg überstanden, waren sicher – das dachten wir zumindest.
Aber dieses Mal ist es anders: Im Frühling habe ich meinen Vater verloren – nur wenige Tage nach dem letzten Waffenstillstand, den ich einst gefeiert hatte. Jetzt kann ich nur an eins denken: Was, wenn der Krieg wieder ausbricht? Wen werde ich als Nächstes verlieren?
An diesem Morgen lief ich über die Straßen und sah Menschen lächeln. Menschen, die mit hoch erhobenem Kopf durch die Straßen gingen – anders als zuvor, als sie vor Erschöpfung meist den Blick gesenkt hielten.
Ich dachte nach: Vielleicht sollte ich mich doch über diese Waffenruhe freuen. Nicht für mich selbst, sondern für diese müden Gesichter. Auch sie hatten sicherlich vieles verloren – und konnten dennoch wieder lächeln. Selbst wenn der Krieg später wieder ausbricht: Die erschöpften Menschen im Gazastreifen verdienen auch einen kurzen Moment der Ruhe.
Während des ersten Waffenstillstands war meine größte Sorge unser Zuhause in meiner Heimatstadt, dem nördlichen Beit Lahia. Ich wartete gespannt darauf, es wiederzusehen, selbst wenn es zerstört sein sollte. Dieses Mal denke ich nur an das Grab meines Vaters: ob es noch da ist oder ob es auch zerstört worden ist.
Als an diesem Donnerstag um zwölf Uhr mittags die lang erwartete Ankündigung einer Waffenruhe kam, gab es keine Feierlichkeiten. Nur klopfende Herzen, irgendwo zwischen Angst und Hoffnung.
Ich dachte darüber nach, wie wir weiterleben würden: Haben wir uns an das Leben in Zelten gewöhnt? Nein, selbst nach fast zwei Jahren nicht. Wie können all die Verluste, die wir ertragen mussten, jemals wieder gutgemacht werden? Gar nicht: Gaza war für mich einst ein Ort voller Träume, Liebe und Freude, jetzt fühlt es sich an wie ein einziger großer Friedhof.
Doch je länger ich nachdenke, desto mehr kommt mir: Der Krieg hat mich auch im Positiven verändert. Ja, ich habe viel verloren, und der Schmerz sitzt noch immer tief. Aber ich habe auch etwas gewonnen: die Fähigkeit, Frieden in mir selbst zu finden. Und er war ein Test des Charakters: Ich habe nicht gestohlen, ich habe nichts an mich genommen, was mir nicht gehörte.
Ich habe mich so verhalten, wie mein Vater es mir beigebracht hat, auch wenn er nicht mehr bei mir ist. Und ich habe immer den Weg gewählt, den ich für richtig hielt, egal was er mich gekostet hat. Ich habe das verwöhnte Mädchen, das ich einmal war, hinter mir gelassen und bin zu einer Frau geworden, die ihre Familie unterstützt und auf eigenen Beinen steht. In diesem Moment, der hoffentlich wirklich ein Ende des Krieges ist, kann ich sagen: Ich bin wirklich stolz auf mich bin. Stolz darauf, wer ich geworden bin.
Diese schweren Zeiten haben mich stärker gemacht – und zu einem besseren Menschen. Das bleibt, auch in einem hoffentlich kommenden Frieden.
Seham Tantesh, 24, aus Beit Lahia, ist die Cousine unserer Reporterin Malak Tantesh. Sie wurde insgesamt mindestens neun Mal vertrieben. Im Frühling 2025 wurde ihr Vater bei einem Luftangriff getötet.
Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.
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