piwik no script img

ganZeit-liche „Erinnerung“

■ Klang-Performance „Erinnerung“ der Gruppe ganZeit in der Christuskirche / Eine Improvisation für Schwingrohre, tibetanische Gongs, Messing-Klangschalen, Sopran-Saxophon, Akkordeon, E-Gitarre und Orgel / Rituale zum astronomischen Frühlingspunkts

Ein Raum ist ein Raum. Keine Buntglasfenster lenken in der Christuskirche von dem Kirchenraum ab, kein überbordender Altar konkurriert - hoch, den Blick weitend, befreiend wirkt dieser Raum. Mit Beton-Streben wird er sichtbar hochgetrieben und aufgespannt. Diese Kirche, vor zwanzig Jahren die erste beim Aufbau des neuen Stadtteils in der Vahr, sollte eine Botschaft sein für Menschen, die sich in ihrer „Neuen Heimat“ in engen Wohnungen zu begnügen pflegen.

Die Musiker jedenfalls nutzen diesen Raum, die Kirche wird in der Woche fast von genauso vielen Liebhabern des Orgelspiels genutzt wie sonntags von Gottesdienst -BesucherInnen. Am Sonn

tag abend waren da vier große Gongs vor dem Altar und dem übermenschlich großen, schlichten Holzkreuz aufgebaut, ein Mann mit weißem Hemd kniete davor. In die Stille hinein dringen einzelne Töne, irgendwo im Halbdunkel dreht sich eines jener bunten Schwingrohre, die wie Kinderspielzeug aussehen. Der Ton kommt zurück, von irgendwo kommt eine Oktave dazu, die 50 Menschen auf den harten Holzbänken schalten vom Alltagslärm ab, versenken sich im Zuhören. „Erinnerung“ heißt das, was hier passieren soll, eine „Klang -Performance“ der Gruppe „ganZeit“.

Die ehemaligen MusikstudentInnen der Gruppe haben sich bei

dem Komponisten und Uni-Lehrer Erwin Koch-Raphael in einem Seminar über „Klangerfahrung“ getroffen und arbeiten nun seit über 2 Jahren zusammen. „Rituale zum Datum des astronomischen Frühlingspunkts - KlangZeitStröme“ ist das Thema an diesem Abend in der Christuskirche, die Gruppe experimentiert und jedes der monatlichen - „Performance“ genannten - Konzert-Programme ist improvisiert und unwiederholbar.

Ein Zeit-Zettel diente am Sonntag abend als formales Band zwischen den im Kirchenraum verteilten AkteurInnen. Zu den Tönen und Obertönen der Schwingrohre gesellten sich bald Laute, menschliche Laute,

Schreie, Vogelschreie - „pssst“, „ztztztzt“, „maaaa“, „mama“, „ilf“, von allen Seiten. Vorn werden vier Personen sichtbar, die die schweren Gongs zum Klingen bringen, gedämpft schlagend, schabend, kratzend, ein Klangspektrum von undurchdringlicher Vielfalt. Ein Saxophon-Ton kommt aus dem Dunkel hinter der Kanzel, auf der Empore hat sich der Gitarrist niedergelassen und schabt mit einem Bogen

die Saiten, an der Orgel scheint Erwin Koch-Raphael seinen Ehrgeiz dareinzulegen, sich dem Klangspektrum der anderen einzufügen und nur ganz unvermittelt und kurz einmal einen als „Orgel“ identifizierbaren Ton beizusteuern. Der tiefe, eindringliche Brummton schwingt im Bauchfell, an dem bekanntlich die Seele hängt, die piepsigen, schrillen Töne der Orgel durchschneiden unangenehm das wohlige

Brummen, die ZuhörerInnen sind vor nichts sicher.

Wer in der Musik nicht das, was klingt, wahrnehmen will, sondern das, was in ihm wiederklingt, ist bei dieser Gruppe am falschen Ort. „Erinnerung“ sollte aber durchaus Empfindungen auslösen, eigene Erinnerungen befreien. Wie benommen waren einige der BesucherInnen um 21.29 Uhr, als auf dem Regie-Zettel „ENDE“ stand. Die großen Gongs - das hatte einleitend Herbert Schmitz erklärt, haben in der asiatischen Musik auch therapeutische Funktion.

Die Gruppe hat sich über John Cages Songbooks zusammengefunden und ist damit bei der Pro Musica Nova (1986) und zu Cage's „Birthdayparty“ 1987 öffentlich aufgetreten. Im Februar war ganZeit in einem kleinen Schwimmbad in Worpswede mit der Performance „Göttinnenspeise“, am 30. April soll im Alten Gymnasium im Gedenkjahr der französischen Revolution die „Tagesschau“ zum Thema einer musikalischen action surprise machen: „nachRICHTEN“ soll der Titel sein.

K.W.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen