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Archiv-Artikel

frau schwab geht in die kirche Bei der polnischen Karfreitagsandacht

Schon vor der Todesstunde Jesu pilgern die Gläubigen vom Südstern die Lilienthalstraße hoch. Sie kommen in ihren Alltagsklamotten oder im schwarzen Anzug. Sie kommen mit Cowboystiefeln oder im Wintermantel. Sie kommen mit Blumen, mit Freundinnen oder mit Kindern in pinkfarbenen Röckchen mit Schleifen im Haar. Sie kommen als Bodybuilder, als Sünder oder als Herr und Frau Soundso. Sie kommen als das, was sie sind, und sie gehen so auch wieder. Und alle sprechen sie polnisch.

Ihr Ziel, die Johannesbasilika, ist am Karfreitag ein Bahnhof der Ergriffenheit. Nur dass im Moment des Todes keine Züge mehr fahren. Weil es nichts zu feiern gibt, sind die Altäre verhüllt, die Lichter im Chor aus, ist der Tabernakel offen, der Kelch mit dem Leib Christi hinter Tüchern versteckt.

Nun gut, in der polnischen Kirche ist der Kelch nicht ganz versteckt. Raffinierte Kerzenbeleuchtung macht ihn hinter dem dünnen Tuch auf dem Seitenaltar sichtbar. Es ist das Licht am Ende des Tunnels. Dahin zieht es die Gläubigen, die zu früh für die Andacht gekommen sind. Sie sitzen, sie knien, sie stehen davor. Dabei gibt es am Karfreitag kein Früher. Im Angesicht des Todes gibt es nur ein Danach. Jeder kann nur zu spät kommen. „Das macht uns gleich“, sagt ein Student.

Um die dritte Stunde starb Jesus. Eine Stunde davor wird in der Kirche der Leidensweg gelesen. Mit verhülltem Kreuz ziehen die Geistlichen ein. Das Gesichtslose macht jeden auf seine Weise andächtig. Die Ergriffenheit kondensiert an den „Ong“- und „Bschong“- und „Bschäschong“-Lauten der Fürbitten und Litaneien, die den ganzen Tag über bis in die Nacht gebetet werden. So überträgt sich das imaginäre Leiden eines Einzelnen auf die Seele hunderter von Menschen, die sich im Laufe des Tages irgendwann in der Kirche einfinden.

Die Ergriffenheit ist echt. Ganz gelassen kommen die Leute. Kaum sind sind sie da, sind sie Teil eines größeren Ichs. Dann gehen sie wieder. Nur so. „Das Gläubigsein ist hier eine Selbstverständlichkeit“, sagt ein junger Mann mit Pferdeschwanz, „das kapieren die Deutschen einfach nicht.“ WALTRAUD SCHWAB