frankfurter szene: Schlafen unterm Soldatenfoto
Kurz vor der Frankfurter Buchmesse muss ich oft an eine ältere Dame mit Brosche denken. Deutlich steht mir das Foto ihres verstorbenen Ehemannes in Wehrmachtsuniform vor Augen, in dessen früherem Arbeitszimmer ich geschlafen habe.
Die taz quartierte einen damals noch in alle möglichen Unterkünfte ein und auch bei eben dieser Dame, die zu Messezeiten untervermietete, um etwas dazuzuverdienen, und sicher auch, um mit einem so gediegenen wie gebildeten Messegast angeregte Konversation zu betreiben. Sie war musisch interessiert. In dem Wohnzimmer des Hauses stand ein Flügel. Es gab eine Gesamtausgabe tatsächlich von Goethe hinter Glas, dazu gebundene Ausgaben von Stifter. Das Service, auf dem das im Preis inbegriffene Frühstück eingenommen wurde, stammte aus Meißen. Bestimmt hat die Dame zur Buchmesse einen Herrn mit bildungsbürgerlichen Ambitionen erwartet. Ich tat mein Möglichstes.
Im früheren Arbeitszimmer ihres Mannes warteten andere Herausforderungen. Er ist Lateinlehrer gewesen. Seit seinem Tod war offenbar nichts verändert worden. Des Weiteren hat er – was nicht nur das Bild in Uniform nahelegte, das über dem zum Bett umfunktionierten schmalen Sofa zentral platziert war – mit alten Kameraden noch lange nach dem Krieg geselligen Umgang gepflegt. Auf dem Schreibtisch standen weitere Soldatenbilder und neben ihnen prangten spätere Fotos, die die Männer jetzt in Zweireihern zeigten; einige Gesichter ließen sich, obwohl älter geworden und aufgedunsen, wiedererkennen. Passten diese Aufnahmen zum Flügel im Wohnzimmer, oder bildeten sie einen Gegensatz dazu? Die jeweilige Antwort auf diese Frage verrät wohl einiges über die eigene Sicht auf die alte Bundesrepublik.
Dirk Knipphals
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