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eine recherche der taz und des kulturradios lotte in weimarAuf der Suche nach der deutschen Leitkultur

„Angemessen wäre eine Vorstellung von Kulturen, die voneinander lernen“

Justus Ulbricht, Historiker an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit Forschungsschwerpunkt deutsche Identitätspolitik:

Oberflächlich gesehen, ist das ganz einfach: Für jeden Einwanderer, der in ein fremdes Land kommt, ist die dort herrschende Kultur die Leitkultur. Er nimmt teil an den Gegebenheiten, die hier herrschen.

Aber so einfach ist das in diesem Fall natürlich nicht. Der Begriff der deutschen Leitkultur nämlich behauptet eine Dominanzkultur. Und dies ist ein ethnoplurales Konzept, wie es aus dem Umfeld der neuen Rechten seit Anfang der Siebzigerjahre bekannt ist: die Vorstellung von verschiedenenen Kulturen, die zwar nebeneinander existieren können, aber abgegrenzt voneinander oder in einer Hierarchie zueinander stehen. Der Begriff der Leitkultur, wenn man ihn ernst nimmt, unterläuft damit den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes.

Der Maßstab für eine deutsche Kultur im 21. Jahrhundert, das ist hingegen die Vorstellung von Kulturen, die voneinander lernen. Mit dem Begriff der deutschen Leitkultur entlastet Friedrich Merz die Wirtschaft und die Politik von Fragen der Legitimität und weist diese Frage den Sozialarbeitern und dem Kulturbereich zu. Das ist der Trick. Es werden sich jetzt bestimmte Feuilletonisten herausgefordert fühlen, zum Begriff der deutschen Leitkultur Stellung zu nehmen. Interessant aber wird der Begriff der Leitkultur eigentlich erst dann, wenn er Rechtspraxis ist. Und auch das gibt es schon: In den Einbürgerungsverfahren, wenn Sprachtests durchgeführt werden oder wenn Fragen zur deutschen Geschichte beantwortet werden müssen.

* „Zuwanderer müssen sich der deutschen Leitkultur anpassen“ (Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion)

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