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eine cervantes für brecht

von TOM WOLF

„Am Kirchhof dort bin ich gestanden, / Wo unten still das Rätsel modert, / Und auf in Grabesrosen lodert; / Es blüht die Welt in Todesbanden.“ So lernte ich Herrn von H., den Dichter Lenau deklamierend, auf dem mittleren Französischen Friedhof in Berlin kennen. Er stand am Fontane-Grab, das – wie er mir sogleich anvertraute – in Weltkrieg zwo einen Splittergranatvolltreffer einstecken musste. In Fontanes Nachbarschaft schmollten unbeachtet die Domizile von Leo Arends, dem Begründer der Stenographie, und Wilhelm Stolze, dem Meister der Kurzschrift.

Herr von H. ist ein Friedhofsflaneur. Mit einem dicken Wegweiser zu berühmten Verstorbenen unterm wildlederummantelten Arm durchstreift er bei jedem Wetter die Totenäcker der Hauptstadt, am liebsten jetzt, im Spätherbst. Alle hat er sie schon besucht, vom Schandacker im Grunewald, wo die Förster und Selbstmörder liegen, über den Islamischen Friedhof in Neukölln bis zum Alten Garnisonsfriedhof in Mitte, wo der romantische Baron Friedrich de la Motte Fouqué nebst vielen anderen adeligen Kämpen im letzten Unterstand dem grellen Slogan „Soldaten sind Mörder“ an der Gottesackerrandbebauung trotzt.

Die Trauersonne ulkt ein bisschen zwischen Nebelblättern, als ich Herrn von H. auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof wiedertreffe, andächtig vorm Grabmal des Vaters der Litfasssäule. Mit leicht gerötetem Antlitz zieht er mich in die literarische Ecke des Prominentenangers. Herr von H. ist weder Snob noch Dandy, weshalb ihm auch der neue Brauch, der sich unter einigen betuchten Sepulkralfanatikern und Totenkulterern eingeschlichen hat, nur ein höhnisches Achselzucken entlockt. Nein, erklärt er mir, er sei nicht dabei gewesen, beim Begräbnis Heiner Müllers, als alles anfing. „Was denn anfing?“, frage ich und erfahre: Gleich drei fette Zigarren hatten Unbekannte dem leidenschaftlichen Regalia-Raucher Müller ins Humusbett nachgeworfen. Später habe er immer wieder klobige Tabakzeppeline auf dem Grabaschenbecher gesehen. Und tatsächlich, als ich mich umschaue, traue ich meinen Augen nicht: Da prangen wohlverpackte Brenner-Stumpen auf Arnold Zweigs und Bechers letzten Quadratmetern, Heinrich Mann hat eine Cohiba aufs Grab hingeschleudert bekommen, Hermlin irgendein ordinäres Blaukraut, die Weigel eine Ciliandros (Madre „C“) und Brecht eine dominikanische Cervantes.

Als sich mein Erstaunen gelegt hat, verrät mir Herr von H., er sei nicht Christ genug, um zu glauben, dass jene armen Seelen ruchlos Wiedergänger werden und mitternächtens diese Opfergaben genießen, aber auch nicht Heide genug, um derart prähistorische Riten auf neuzeitlich geweihten Stätten zu begreifen. „Tote rauchen nicht mehr! Basta!“ Ich pflichte ihm völlig bei und zeige mich entsetzt über den neumodischen Kult. Das weltmännische Odeur einer Cervantes umspielt meine Miene – das Leben als Grabräuber könnte mir gefallen. Gern verabrede ich mich mit Herrn von H. für kommenden Sonntag an Rahels Grab. Mal sehen, ob die Zigarrenopferer nachlegen.

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