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Archiv-Artikel

ein vormittag mit gott von WIGLAF DROSTE

Gott war ein gut aussehender Mann, aber an dem Vormittag, an dem ich ihn traf, war er ziemlich aus dem Leim. Sein grau meliertes Haar hätte eine Frisur vertragen können, sein Anzug eine Reinigung, er brauchte dringend eine Rasur, und sein Atem roch nach Fusel. Er saß auf einer Bank an der Bushaltestelle, neben ihm stand eine halb leere Flasche Rotwein von zweifelhafter Provenienz.

Ich betrachtete ihn voll Mitgefühl. Wir kannten uns jetzt schon ein paar Jahre und hatten eine gute Zeit miteinander verbracht. Gott war ein freundlicher Mann, bei aller angenehmen Zurückhaltung durchaus gesellig, und seine religiösen Auffassungen betrachtete er als seine Privatangelegenheit und behielt sie entsprechend für sich. Um ihn zu provozieren, spotteten Quälgeister, er habe spirituell wohl stark abgebaut. Er ging nie darauf ein. Wenn er sich aber in der Kneipe ans Klavier setzte und Jazz spielte, wurde jedem klar, dass Gott die Puste noch lange nicht ausgegangen war.

Gott sah, wie ich ihn musterte und warf mir einen beschämten Blick zu. Entschuldigend hob er die Hände; mit einer Geste lud er mich ein, mich zu ihm zu setzen. Ich tat es und roch seine spritige Aura. Er bot mir die Flasche an, ich wollte nicht schofelig sein und nahm einen Schluck. Das Zeug schmeckte fürchterlich. „Seit wann trinkst du Rattenpisse?“, fragte ich ihn. Er lächelte erschreckend schwach, sah durch mich hindurch und sagte: „Ich habe die ganze Nacht telefoniert. Bis heute morgen um elf. Es war fürchterlich.“ Er schüttelte sich, als müsse er die Erinnerung loswerden. „Hast du mal ein Flüppchen?“

Ich ging zum nächsten Automaten, zog ihm eine Schachtel und brachte sie ihm. Er rauchte, sah auf seine Schuhe und sagte: „Frauen sind das reine Gift. Ich krieg das einfach nicht mehr gebacken.“ Sein Mobiltelefon klingelte. Er zog es aus der Jacketttasche, betrachtete verzweifelt das Display, nahm den Anruf aber entgegen. Ich ging ein paar Schritte weg und hörte ihn mit weicher Stimme sprechen. Er steckte das Handy wieder weg. „Ich hab das gründlich in den Sand gesetzt“, sagte er. „Man kann sich das gar nicht vorstellen: Die ganze Schöpfung in einer Woche, das war ein Klacks. Hat sogar Spaß gemacht. Aber seitdem geht ALLES den Bach runter. Und das Schlimmste ist, dass ICH, also ICH, es nicht mal schaffe, mir das Rauchen abzugewöhnen. Oder das Trinken.“ Wie in Selbstverachtung nahm er einen Hieb aus der Kanne. „Geschweige denn, dass ich mal zu einer Frau klar und deutlich NEIN sagen könnte!“ Er sackte in sich zusammen und erging sich in höhnischen Selbstbezichtigungen.

Was konnte ich tun? Gott war einer von uns, nur noch schwächer. Das machte ihn ja so sympathisch. Ich verabschiedete mich, ging nach Hause und schrieb die Geschichte auf, um sie nach Dublin zu schicken, zu Ralf Sotscheck – dem berühmtesten Nichtraucher der Welt, den ich bis zu diesem Morgen für den Schutzheiligen aller Labilen gehalten hatte. Sotscheck hatte seinen Meister gefunden. Nietzsche, der Schreihals, hatte geirrt: Gott war nicht tot. Er saß an der Bushaltestelle und nahm noch einen Schluck. Im Weggehen hörte ich sein Handy klingeln. Gott ging dran.