ein amerikaner in berlin : ARNO HOLSCHUH über Kultur in Babelsberg
Claqueur bei ‚Vera am Mittag‘
Manchmal ist Berlin zu reich an hochwertiger Kultur. Die Stadt ist übersät von Theatern und Galerien. Straßenmusikanten spielen plattenreife Bachkonzerte und in der U-Bahn werde ich von Foucault-lesenden Leuten umringt. Zugegeben, es gibt auch Bild oder BZ-Leser. Aber sie lesen! Als ich in Chicago lebte, hat niemand im Zug gelesen, denn Lesen macht dort angeblich auffällig. Und auffällige Passagiere werden am häufigsten Gewaltopfer willkürlicher Jugendbanden. Also bleibt man sicherheitshalber ungebildet.
Glücklicherweise gibt es gleich außerhalb Berlins einen kulturfreien Raum: Babelsberg, wo „Vera am Mittag“ gedreht wird. Als ich die Gelegenheit bekam, als Zuschauer an der Show teilzunehmen, griff ich sofort zu. Vera hatte ich nie gesehen. Man sagte mir aber, es sei die trashigste Talkshow im deutschsprachigen Raum. Ich dachte, dass sie also trashigen amerikanischen Talkshows a la Jerry Springer gleiche. Dort werden Themen wie „Frauen, die transsexuelle Klemptner(innen) lieben“ oft mittels körperlicher Gewalt behandelt. Für uns ist es halt normal, dass der Ehemann einer Frau, die sich in eine Klemptnerin verknallt, dieser einen Stuhl auf den Kopf haut. Hauptsache, man muss es nicht ernst nehmen.
Also nix wie raus aus diesem Derrida-und-Kaurismäki-Sumpf und rein in einen fröhlichen Babelsberger Abgrund von Blödheit! Als ich in den Vera-Saal geführt werde, steht ein hektischer Mensch, „der Aufheizer“, vor uns. Er unterrichtet uns, dass wir das hier ernst zu nehmen haben: „Bitte, wenn ich euch sage, dass ihr klatschen sollt, dann müsst ihr echt laut klatschen. Das ist wichtig.“ Er sagt es mit mehr als professioneller Begeisterung. Man spürt auch eine gewisse Angst dabei.
Wofür wir klatschen sollen, bleibt zunächst unklar, das Thema der Sendung erfahren wir noch nicht. Das werde Vera uns schon mitteilen, sagt er. Langsam nimmt Vera die Züge einer dieser zickigen, grausamen griechischen Göttinnen an. Vera klingt ja auch fast wie Hera. Mit einem glänzenden Lächeln begrüßt uns die Fernsehgöttin im schwarzen Anzug. Dann verkündet sie: „Das Thema heute: Hör doch auf, von der Stütze zu leben!“ Der Aufheizer gibt uns das Zeichen, wir möchten uns jetzt begeistern, aber irgendwie ist mir nicht danach. Ich hatte mir irgendwas mit Sex, Gewalt oder mindestens Handwerker mit komplizierten sexuellen Identitäten gewünscht. Dieses Thema aber hat die Begeisterungskraft eines Kommentares in der FAZ.
Dann kommen sie herein: Erst drei bürgerlich aussehende Berufstätige, die wohl das Tugendhafte an Deutschland repräsentieren sollen. Dann drei Langzeitsarbeitslose, schlampig angezogen, mit schläfrigem Blick. Offenbar hat man ihnen ein Beruhigungsmittel verabreicht, um sie zu leichter Beute zu machen. Auf jeden Fall argumentieren sie wie Leute, die gerade aus einer Vollnarkose aufwachen.
Einer meint, er wolle arbeiten, bleibe aber dann immer zu Hause, um Video zu gucken. Er wird natürlich reichlich ausgeschimpft. Von den Erwerbstätigen, vom Publikum, von Vera. Vor allem aber vom Anheizer, der laute Buhrufe von sich gibt. Den anderen ergeht es nicht besser. Sie werden alle niedergemacht, während ein junger Gast bejubelt wird, weil er seit Jahren bei McDonald’s arbeitet. Mir wird schlecht. Was hatte ich nur erwartet? Trash. Und dies ist Trash, auf jeden Fall. Mir ist trotzdem unbehaglich zu Mute, denn ich habe das Gefühl, dass Vera das alles als seriös verkaufen will. Dass die Zuschauer sich hier eine Meinung zur Sozialpolitik bilden sollen.
Im Zug zurück nach Berlin wende ich mich deprimiert an eine etwa 40-Jährige, die ein Buch liest und Kopfhörer aufhat. Verzweifelt nach vernünftigem menschlichem Kontakt suchend, spreche ich sie an: „Entschuldigung, ich möchte nur wissen, was Sie da lesen.“ „Das hier?“, fragt sie mit wohlwollendem Lächeln. „Na, ‚Der Jlückskäfer‘. Das neue Buch von Vera.“
ARNO HOLSCHUH, 27, ist amerikanischer Journalist und lebt als Stipendiat für ein Jahr in Berlin