editorial: Warumlesen?
Über diese literataz, Jürgen Habermas, die Buchmesse und die Aufforderung, authentisch zu sein
In den letzten Monaten wurde viel über die sogenannte Identitätspolitik diskutiert, vor allem in der taz. Um nicht in gegenseitigen Vorwürfen zu verharren oder gar in Posen zu erstarren, wollten wir uns in dieser literataz dem Thema von der Seite nähern. Wo sind die blinden Flecke, wo sind die sozialen Bewegungen schon weiter als die theoretische Diskussion, und sind gewisse Grenzziehungen nicht längst obsolet?
Das sind die Fragen, die implizit oder explizit in vielen Beiträgen dieser literataz mitschwingen.
Die Idee unterschiedlicher Identitäten ist immer auch mit Vorstellungen von Authentizität verknüpft. Liegt vielleicht hier der Schlüssel für den Erfolg der Identitätspolitiken? Die Aufforderung, authentisch zu sein, jedenfalls ist auf Dauerbeschallung gestellt. Aber ist dieses Ideal wirklich immer so selbst gewählt?
Das alles – und noch viel mehr – hätte man in einem normalen Jahr jetzt auf der Frankfurter Buchmesse besprechen können. Schließlich: „Wir sind von Haus aus eine geschwätzig plappernde Spezies – kommunikativ vergesellschaftete Subjekte, die ihr Leben nur in Netzwerken erhalten, die von Sprachgeräuschen vibrieren.“ Das schreibt Jürgen Habermas gerade in einem Suhrkamp-Sammelband zum Thema „Warum Lesen“, und auf einer Buchmesse kann man a sagen zum kommunikativen Vergesellschaften oder könnte es – normalerweise. Aber dies ist kein normales Jahr, und es ist auch keine normale Buchmesse. Man wird sich höchstens digital begegnen. So ist es nun mal.
„Warum also lesen?“ fragt Jürgen Habermas weiter und antwortet: „Um wenigstens manchmal einige Zipfel jener vorsprachlich präsenten Erfahrungen, aus denen wir intuitiv leben und mit denen wir dahinleben, als solche zu ergreifen und uns anschaulich vor Augen zu führen. Ob sie nun schön sind oder schrecklich.“
Die Erfahrung, auf seine Herkunft festgelegt zu werden, kommt in dieser literataz (etwa bei Avid Akhar, S. 2, und Anna Prizkau, S. 6) genauso vor wie die Erfahrung, sich ständig fragen zu müssen, was man eigentlich sucht (wie bei Roman Ehrlich, S. 5). Susan Sontag, über die es eine neue Biografie und neu übersetzte Erzählungen gibt, hat das sowieso immer schon differenziert gesehen (S. 14). Und Johny Pitts hat sich gleich auf die Suche nach einer afropäischen Kultur begeben (S. 15).
Besonders empfehlen möchten wir auch das Porträt des Ökonomen und diesjährigen Friedenspreisträgers Amartya Sen (S. 11), der sich auch nicht auf eine Identität festlegen lässt.
Tania Martini, Dirk Knipphals
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