dream team (1) : Der Ball und die Kontingenz
In der Hamburger Kunsthalle steht eine Skulptur von Richard Serra, an die ich gelegentlich denke, wenn es um die Frage geht, wie wichtig einzelne Augenblicke sein können. Sie besteht aus zwei riesigen Stahlplatten, die heikel auf Kante gestellt sind. Man denkt unwillkürlich: Mit einem kleinen Fußtritt kannst du das doch umkippen! Dann heißt die Installation auch noch: „Do it!“ Und man fragt sich, ob man die bürgerliche Zentralforderung an die Kunstrezeption – Du sollst dein Leben ändern! – hier nicht in einer schnellen Bewegung erfüllen soll: Ein Fußtritt, ein Poltern, dann bald Polizeisirenen, und nichts im Leben ist mehr so wie zuvor …
Dass ich in diesem Zusammenhang an einen Fußtritt denke, das habe ich wohl dem Fußball zu verdanken; ich könnte ja auch fantasieren, die Stahlplatten mit der Hand umzukippen, aber das tue ich nie. Plötzlichkeiten, Momente, in denen wirklich etwas auf dem Spiel steht, in denen etwas kippen und sich entscheiden kann, spürt, wer, wie ich, mit sechs Jahren in einen Fußballverein gegangen ist, in den Füßen – immer noch, auch wenn ich seit 15 Jahren nur noch sporadisch kicke. Schießt du oder schießt du nicht? Triffst du oder triffst du nicht? Spielst du jetzt den Pass oder verzögerst du noch? Simple Ja-oder-nein-Entscheidungen, die, wenn man richtig im Spiel ist, sozusagen von den Füßen selbst getroffen werden. Das Ergebnis ist dann nicht mehr in der eigenen Gewalt. Hat der Torwart den Ball? Hat der Mitspieler mitgedacht? Zehntelsekunden-Augenblicke, in denen alles auf dem Spiel stehen kann. Und letztlich kann man hinterher noch so viel erklären: Ein Moment von Kontingenz bleibt immer. Es ist nicht vorherbestimmt, was geschieht, the future is unwritten. Ein kleiner Fußtritt kann das Leben ändern: Das ist das Geile an Fußball!
Bei Serra kann ich mich natürlich immer noch rechtzeitig kontrollieren. Beim Fußball aber habe ich solche herausgehobenen Momente immer begehrt: Die Entscheidung auf deinem Fuß; selbst in der unteren Kieler Kreisklasse gibt das noch einen Kick, auch wenn’s selten genug vorkam. Und beim Fußballgucken sind gerade solche Augenblicke, die heikel auf Kante gebaut sind, diejenigen, die man am meisten liebt: Lehmann kürzlich beim Endspiel, die Nachspielzeit der Bayern gegen Manchester am 26. Mai 1999 in Barcelona, das legendäre Kopfballtor von Leonardo Manzi in der 71. Minute, das 1993 den Abstieg des FC St. Pauli in die dritte Liga verhinderte. Jede Situation, auf ihre Art, eine „Do it!“-Installation. Und sie haben es getan! DIRK KNIPPHALS