documenta-Archiv feiert Laurie Anderson: Pionierin der Träume
Eine Tagung in Hofgeismar zum 50-jährigen Bestehen des documenta-Archivs ehrt die US-Künstlerin Laurie Anderson und irgendwie steht alles im Zeichen des Hundes.
Die US-Performance-Künstlerin Laurie Anderson liebt Hunde. So sehr, dass sie – vor kurzem in New York – selbst einen Hund zur Welt gebracht hat, in einem schönen Kreißsaal mit strahlenden Schwestern und einem freundlich gratulierenden Arzt. Surprise: Es ist ihr eigener Hund, Lolabelle, schon ein ziemlich ausgewachsenes Exemplar.
"Wie habe ich das gemacht? So einen großen Hund aus meinem Bauch zu bringen … ich war beeindruckt", schildert Anderson in der Akademie Hofgeismar auf einer Tagung zum 50-jährigen Jubiläum des documenta-Archivs, die der New Yorker Künstlerin zu Ehren "Video- und Performancekunst: Laurie Anderson - eine Pionierin" überschrieben war.
Die Hundegeburt ist eine von 53 kurzen Geschichten, die Laurie Anderson in ihrer neuen Konzertperformance "Delusion" erzählt. Darunter sind viele Träume, die zu multimedial inszenierten Storys wurden. "Träume sind Filme, die wir für uns selbst machen, mit einer sehr persönlichen Ikonografie", sagt Laurie Anderson. "Ich liebe Kinder, aber selbst wollte ich nie welche haben. Vielleicht, weil ich meine sechs jüngeren Geschwister mit großziehen musste. Ich wollte frei sein - und Kunst machen. Keine Kinder."
Eingeladen wurde Anderson von documenta-Archiv-Leiterin Karin Stengel auch, weil ihre Performance-Videos für die documenta 8 aus den späten Achtzigern nun in ein digitales Format transferiert worden sind. Laurie Anderson sprach in Hofgeismar ausführlich über den künstlerischen Prozess ihrer Bühnenarbeit.
Es war nicht das einzige Highlight, ihr folgte Carolyn Christov-Bakargiev, die künstlerische Leiterin der nächsten Documenta. Sie gab Auskünfte über ihr Ausstellungskonzept "100 Notes - 100 Thoughts", einer Serie von Notizbüchern internationaler KünstlerInnen, einem publizistischen Vorspiel für die am 9. Juni 2012 beginnende Documenta 13. Mit Künstler- und Ortsbenennungen hielt sie sich aber zurück. Wie alle anderen Documenta-LeiterInnen zuvor.
Weltoffenes Konzept
Anwesende Kasselaner schienen allerdings vor ihrem weltoffenen Konzept zu streiken. Nach einer Stunde philosophischer und eloquenter Betrachtungen zu einer hoch interessanten Kurve von Bezugsebenen aus analytischer Naturwissenschaft und soziokulturellen Kunstbedingtheiten verlangten ungeduldige Zuhörer nach Namen der eingeladenen Künstler.
Aber Christov-Bakargievs agil-dynamisches Konzept der Begegnung, des allmählichen Aufbaus einer "worldly alliance", die auch Mikroebenen der heutigen Naturwissenschaft einbezieht und ein Kunstverständnis aus anthropozentrischer Perspektive entschieden ablehnt - hielt dicht. Sie verriet nur ein Geheimnis. Auch die neue Documenta-Leiterin mag Hunde. Freilaufende Hunde.
Das Wochenende des documenta-Archivs stand immer wieder im ironischen Zeichen des Hundes. Vielleicht gibt es ja auch keinen treueren Freund der KünstlerInnen unserer Zeit als die Archivare und Archivarinnen. So genau schaut sonst kaum jemand hin. So sorgfältig bewahrend und selbstlos schützend stellt sich sonst auch kaum jemand vor jedes noch so kleine Dokument des Arbeitsprozesses in der Kunst und im Ausstellungswesen.
Drittes Highlight dieses Wochenendes war das documenta-Archiv selbst, das mit der kurz vor dem 50-jährigen Jubiläum eingegangenen Zusage der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) für eine Finanzierung der noch ausstehenden Digitalisierung der Archivalien zu den Documentas 6 bis 12 den endgültigen Übergang ins digitale Zeitalter feiern konnte. Ende Juni 2011 wird zudem ein ambitioniertes Kooperationsprojekt im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe in das öffentliche digitale Leben entlassen, die Homepage mediaartbase.de.
Die Entwicklung einer exemplarischen Datenbank-, Archiv- und Präsentationsstruktur auf Basis einer international kompatiblen Open-Source-Software wird es kleineren Archiven und Institutionen ermöglichen, sich anzudocken und ihre eigenen Medienbildbestände der Forschung digital zugänglich zu machen. Komplizierte Nutzungsrechtsfragen verhindern es derzeit leider noch, dass //mediaartbase:mediaartbase zu einer wirklich öffentlichen digitalen Plattform für alle Interessierten werden kann.
Die Archivbestände
Das Archiv im Kulturhaus Dock 4, im Schatten des Kasseler Fridericianums, beherbergt neben der Dokumentation der Documenta-Ausstellungen 1 bis 12 eine der umfassendsten Präsenzbibliotheken zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts . 30.000 Monographien, 60.000 Kataloge, 150 laufende Zeitschriften können vor Ort eingesehen werden. 450 Anfragen erhält das Archiv jeden Monat.
Die Kasselaner Stadtbürokratie hat das Archiv bis jetzt eher stiefmütterlich behandelt. Nun wünscht sich die Archivleiterin Karin Stengel endlich eine räumliche und konzeptionelle Erweiterung zu einem Documenta-Zentrum mit Kooperationspartnern. Das kleine, charmante Archiv als geduldiger Packesel mit Skateboardbahn vor der Tür braucht nun selbst auch eine reale Auffrischungskur als Standort.
Die Digitalisierung der Fotos und des Pressearchivs der Documentas 1 bis 5 wurde 2008 abgeschlossen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert nun zwar die Digitalisierung der Documentas 6 bis 12, allerdings ohne zusätzliche Mittel für die Erhaltung des Pressearchivs.
Eine seltsame Entscheidung, da die erste Hälfte der Datenbank konzeptionell auf einer Verzahnung des Bildmaterials und der Presseresonanz aufbaut. Martin Groh vom Archiv: "Wir freuen uns natürlich sehr über die Mittel zur Bilderdigitalisierung, aber es ist, als hätte man uns die Beine amputiert. Das Pressearchiv ist ein zentraler Bezugspunkt unserer bisherigen Digitalisierungsarbeit."
"Im Traum", erzählte Laurie Anderson, "kamen diese Leute in mein Studio und verkündeten, dass sie mein Lebenswerk digitalisieren wollten - in lebenden Pflanzen. Ich habe gedacht, das ist ein guter Geschäftsplan." Sie bleibt also Pionierin - diesmal für eine kleine Hardware-Veränderung. "Delusion". Noch.
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