die warhheit: Poesie für Jubelperser
Auch die Branche der Claqueure im Kulturbetrieb befindet sich im Umbruch
K eine Frage: Die Leute brauchen Kunst. Zum Zwecke der Erbauung, Zerstreuung, Reflexion oder was auch immer. Aber blöderweise braucht die Kunst auch Leute - wenigstens ein paar Leutchen, die an ihr Anteil nehmen, die Räume und Reihen in Theatern, Ausstellungsräumen, Konzertsälen und Literaturhäusern füllen, die klatschen, kritische Nachfragen stellen, um Widmungen wetteifern, am Bühnenausgang herumlungern und schlicht und einfach Präsenz zeigen, wenn Geld gebende Minister oder Sponsoren zum Kontrollbesuch aufkreuzen. Denn nicht nur die Kunst braucht Leute, auch der Kunstbetrieb.
Aber wer hat, in Zeiten von 80-Stunden-Jobs, Stress und Burn-out, in Zeiten der Unvereinbarkeit von Kind, Karriere und Kammermusik noch Kraft und Muße, hinzugehen? Kaum einer. Und deshalb entpuppen sich selbst die generösesten Publikumsbeschaffungsmaßnahmen als Flops: Eintritt frei, Futtern frei, Saufen frei, Stadtrundfahrt inklusive, mittwochs Männertag, Single-Abende à la "Frisch sucht Fabel" oder - der amerikanischen Baseball-Liga entlehnt, die Übernachtungen im Stadion anbietet - Schlaf- und Saufgelage im Saal mit Isomatten frei Haus. Doch was Fernsehshows wie "Britt" oder "Johannes B. Kerner" scharenweise Studiozuschauer beschert - in der Hochkultur schlägt es nicht an.
Dann eben nicht. Dann eben kein freier Eintritt, sondern besoldeter, Präsenz gegen Provision: Immer mehr Kulturveranstalter setzen auf professionelle Reihenfüller, in Fachkreisen "Stopgaps" genannt, auf gut Deutsch: Jubelperser; dem französischen Claqueur ähnelnd, aber nicht mit ihm identisch. Kurz: Eliten kann man auch mieten - und durch die Entschlackung von Ensembles oder Kürzung von Künstlergagen refinanzieren.
Die Voraussetzungen für einen Job als Stopgap sind überschaubar: Mit einem gepflegten Äußeren sowie mimischer und gestischer Ausdrucksstärke ist man gleich erste Wahl. Die Leutchen müssen ja keine Leuchten sein, müssen lediglich ein Quäntchen Kultiviertheit mitbringen, woran ein Pilotprojekt in Hessen, Hooligans zu Stopgaps umzuschulen, gescheitert ist. Wichtig sind weiterhin Fremdsprachenkenntnisse, mindestens Englisch, Französisch und Jubelpersisch in Wort und Schrift sowie ein paar Lobhudeleien in weiteren Sprachen, um auch im Ausland einsetzbar zu sein: phenomenal, fenomenal, fenomenaal, phénoménal, fænomenal, fenomenalny, fenomenální, fenomenico und so weiter.
Von Vorteil ist auch ein Repertoire an intelligenten Fragen fürs Publikumsgespräch, aber dafür gibts seit langem auch ein Handbuch: Dietrich Schwanitz, "Alles, was man fragen muss" von 1999, mit Kernfragen in allen Varianten: "Wo nehmen Sie nur ihre Ideen / Miete / Leser her?" Nur die Vollprofis unter den Stopgaps, die haben ihr eigenes Repertoire.
Wie Tina Funke. Ich treffe sie in einem Lesecafé in Leeuwarden. Die junge Frau ist spezialisiert auf Lesungen experimenteller Lyrik im gesamten deutschsprachigen Raum und in den Beneluxländern. Sie gibt mir eine Kostprobe aus ihrem Fragenkatalog: "Das erinnert mich an Thomas Kling. Dieser sagenhafte Seziersound! Verstehen auch Sie Sprache als Ekstaseinstrument?" Ihre Auftragslage ist bestens, denn: "Der Lyrikboom ist eine Ente", sagt sie, "nur multimediale Mega-Events laufen gut, bei allen anderen Lesungen kenne ich 90 Prozent der Besucher." Ausnahmsweise war sie gestern bei einer Podiumsdiskussion, Thema: "Altersarmut unter Autoren". Lauter Lyriker mit hängenden Köpfen, dazwischen ein sehr eloquenter Moderator vom Rundfunk, der es verstand, mit witzigen Wortspielen zwischen langatmigen Beiträgen hin und her zu changieren.
Aber auch Tina Funkes Arbeitsplatz ist längst nicht mehr sicher. Denn schon bald sollen die ersten Stopgaps durch Androiden ersetzt werden, "artificial audience" sei das Zauberwort der Zukunft, verrät mir ein Branchenkenner. Zunächst seien einige Dutzend Gummipuppen mit integrierten Laughtracks im Einsatz, ergänzt durch Räusper-, Raun-, Hüstel- und natürlich Fragekonserven. Erste Testversuche in Köln und Düsseldorf seien erfolgreich gelaufen, Minister und Sponsoren hätten nichts von der kleinen Schummelei gemerkt.
Vielmehr zeigten sie sich über das neue Publikum entzückt. Denn Jubelpuppen sind der Hit: noch kultivierter, noch adretter, mit noch mehr Lach- und Stirnfalten; das Mienenspiel noch minutiöser, das Hüsteln noch hymnischer, der Beifall noch beifälliger, die Fragen noch fraglicher.
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