die wahrheit: Stop and go mit Ai Weiwei

Heute wird die documenta eröffnet. In Kassel ist bereits der große Stau ausgebrochen.

Der Stau-Künstler Ai Weiwei freut sich über jede Karambolage Bild: ap

Stop and go mit Ai Weiwei
Heute wird die documenta eröffnet. In Kassel ist bereits der große Stau ausgebrochen

Kassel, 16. Juni 2007, Eröffnung der documenta 12. Die "Welthauptstadt der zeitgenössischen Kunst" versinkt in einem gigantischen Chaos aus zigtausenden, wild hupenden Autos. Der Stau erstreckt sich flächendeckend von der Wilhelmshöher Allee bis zur Wolfhager Straße. Die Abgasglocke, die über der nordhessischen Stadt hängt wie der Atompilz über dem Bikini-Atoll, macht jeden Atemzug zur Qual. Verwirrte Omis taumeln halb ohnmächtig durch die Fußgängerzone, retten sich vom Drogeriemarkt in die nächste Kaufhalle, um nahe den Belüftungsschlitzen der Klimaanlage etwas Frischluft zu erhaschen.

Währenddessen sitzt Ai Weiwei in seinem weißen Saab und schmaucht vergnügt sein Opiumpfeifchen. Dass er seit zwei Stunden am Altmarkt im Stau festsitzt und an ein rechtzeitiges Eintreffen zur Eröffnungsfeier längst nicht mehr zu denken ist, juckt den chinesischen Künstler herzlich wenig. Schließlich ist er selbst für das Chaos verantwortlich. Er war es, der Anfang April verkündete, mit 1.001 Chinesen nach Kassel kommen zu wollen. Dass es dann 10.001 wurden, führt der pfiffige Szenestar auf "Kommunikationsprobleme" zurück. Doch nun ist die Armada aus dem Reich der Mitte unübersehbare Realität und verwandelt das beschauliche Residenzstädtchen in einen Moloch aus Lärm, Abgasen und weggeworfenen Leberwurstbrötchen.

Verhängnisvoll wirkte sich auch aus, dass der schwedische Autobauer Saab als Hauptsponsor der documenta versprochen hatte, jedem Chinesen einen Wagen zur Verfügung zu stellen. Seitdem bewegt sich eine unübersehbare Flotte von 10.001 Saabs unaufhörlich hupend durch Kassels Straßen. Dass die meisten seiner mitgereisten Landsleute keinen Führerschein besitzen und noch nie in einem Auto, geschweige denn einem Saab gesessen haben, erklärt der gewiefte Aktionskünstler Weiwei zum besonderen Charme des Projekts. Die Hupe betätigen können sie jedenfalls bestens.

Die meisten Chinesen scheinen die Stadt denn auch mit einem riesigen Autoscooter zu verwechseln: Karambolagen, Seit- und Frontalzusammenstöße passieren im Minutentakt, die Polizei hat die Unfallaufnahme längst aufgegeben. Für Ai Weiwei ist das Verkehrschaos Bestandteil und erster Höhepunkt der documenta. "Was wir hier erleben dürfen", sagt der kahl geschorene Sohn des Dichters Ai Qing und zupft verzückt an seinem Bart, "ist die Faszination des chinesischen Menschen für die westliche Technik und fortgeschrittene Lebensart. Eine wunderbare Performance von art in motion." In seiner Perspektive ist die Straße eine Stätte gesellschaftlicher Integration, Homogenisierung und Nivellierung, das Automobil eine industriell produzierte, künstliche "Opiumhöhle", in der sich ein organisierter Massenbetrug mit dem Ziel gesellschaftlicher Entmündigung vollzieht. "Andererseits kann der Straßenverkehr auch ein ästhetisches Asyl sein, in dem Autofahrer wie Passanten sich - zumindest zeitweise im Stau - aus dem gesellschaftlichen Integrationszusammenhang gleichsam herausreißen."

Weiwei, der schon in den Neunzigerjahren mit exzentrisch-poetischen Kunstwerken und einer transdisziplinären Methode mit Bezug zum Verkehrswesen Aufsehen erregte und für den Irritation und Verschlüsselung Leitmotive seiner Arbeit sind, entführt uns in die hermetische Welt seines Kunstverständnisses. "Wir führen hier eine Choreografie auf, in der die Automobile mit Zitaten und Texten aus unterschiedlichen Epochen kombiniert werden. Die Texte werden in Morsecode übersetzt und über die Hupsignale der Fahrer kommuniziert. Ihre Chiffrierung zeigt, dass es nicht um universelle Lesbarkeit, sondern im Gegenteil um Blendung, Täuschung und Bedeutungsverlust geht."

Sprichts, gibt Vollgas und rauscht einem drei Meter vor ihm stehenden Mitsubishi auf die Stoßstange. Während Weiwei dem geschädigten Vordermann sein Konzept der Irritation und des Bedeutungsverlusts kommuniziert, raufen sich nach Frischluft japsende Einwohner verzweifelt die Haare und verwünschen den Tag, an dem die documenta nach Kassel kam.

Kaum ist die zwölfte Leistungsschau der zeitgenössischen Kunstszene eröffnet - schon liegen die ersten Opfer des Massenansturms röchelnd im Straßengraben, während das teuer gekleidete Kunstvölkchen mit seinen Dolce-&-Gabbana-Atemschutzmasken lässig an den dahinsiechenden Hessen vorbeischlendert.

Taxifahrer Albert Graum ist ebenfalls alles andere als begeistert von der Chineseninvasion, die ihm nachhaltig das Geschäft versaut. "Ich hab heute noch keinen einzigen Stich gemacht", nörgelt der altgediente Taxler an seinem Standplatz am Hauptbahnhof, "ist aber auch egal, es gibt ja sowieso kein Durchkommen mehr. Ich geh jetzt erst mal ein Bier trinken."

Es gibt aber auch Branchen, die von dem Massenansturm enorm profitieren. Die Kfz-Reparaturbetriebe reiben sich jedenfalls die ölverschmierten Hände. Tausende von zu erwartenden Blechschäden werden ihre Auftragsbücher füllen und satte Gewinne sichern.

Über all diese kleinkrämerischen Erwägungen kann Ai Weiwei nur den Kopf schütteln. Für ihn zählt nur die Kunst. Das nächste Projekt hat er auch schon in der Kreativpipeline: zur Finissage der documenta plant er, jeden seiner Chinesen mit einem Kontrabass auszustatten und über das Stadtgebiet verteilt eine Komposition seines Künstlerkollegen Hu Fing-Xiao uraufführen zu lassen. Nur unwillig gibt er nähere Informationen preis - es soll sich, so viel lässt er sich immerhin entlocken, um eine "sehr interessante" Vertonung der deutschen Straßenverkehrsordnung handeln.

RÜDIGER KIND

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