die wahrheit: Coaching für Journalisten
Coaching ist der neue Trend im Fernsehen. Lebenshilfe auf allen Kanälen. Doch eine Berufsgruppe fehlt bislang: Journalisten.
Es ist der neue Trend im Fernsehen: Coaching. Da möbeln Sterneköche heruntergekommene Restaurants auf, Nannys heruntergekommene Familien, Schuldnerberater heruntergekommene Finanzen - Lebenshilfe auf allen Kanälen. Stets geht es dabei um erstaunlich grundlegende Dinge des Lebens. Eine Sendung aber fehlt dringend: Coaching für Journalisten. Ein Coach wird in eine Redaktion gerufen und trifft dort auf einen verlotterten Journalisten.
Eigentlich hält sich der Journalist für einen Künstler. Der "Künstler" im Journalisten glaubt, wenn er seinen Schreibtisch vollmüllt, sei er "kreativ". Um wahrhaft schöpferisch tätig zu sein, braucht es aber das Prinzip Stalin: Die Ordnung der Dinge beherrscht die Ordnung des Geistes. Der Coach wird auf dem Schreibtisch des Journalisten eine stalinistische Säuberungswelle durchführen.
Eigentlich hält sich der Journalist für einen Gourmet, dabei ist sein Hauptnahrungsmittel Pizza. Die Reste verstaut er gern in Schubladen, denn der Journalist ist ständig hungrig, seit er nicht mehr rauchen darf. Beim Resteverschlingen vergräbt er seine schmutzigen Fingernägel und langen Nasenhaare gierig im schon leicht grünlichen Teigbelag. Der Coach wird diese Essgewohnheiten verändern und den Pflegebereich des Journalisten mit Zahnseide und Zungenkratzer, Nagelfeile und Nasenhaarschneider renovieren.
Eigentlich hält sich der Journalist für einen Intelligenzler, und Intelligenz säuft angeblich: mittags schon eine Flasche Rotwein und den letzten Kurzen weit nach Mitternacht. Die Berufskrankheit Alkoholismus führt jedoch zu völliger Verwahrlosung. Der Coach wird neue Regeln einführen: Alkohol gibt es erst ab Punkt 18 Uhr - "wenn in Hongkong die Sonne untergeht", wie der Whiskykenner Günter Gaus einst sagte - und nur noch bis Schlag null Uhr. Sonst muss der Journalist in eine Kleinstadt im Osten ziehen und darf nur noch für die Kurz-vor-Obdachlosenzeitung junge Welt schreiben.
Eigentlich hält sich der Journalist für einen Schriftsteller, allerdings einen verkannten. Deshalb führt er am liebsten Interviews. Denn wenn einem Journalisten nichts einfällt, macht er ein Interview. Am liebsten mit einem Kollegen. Ein Journalist interviewt einen Journalisten. Und wenn er selbst das nicht mehr schafft, schreibt er ein Kollegenstück, das zwar kein Leser versteht, aber dafür hat er wieder ein öffentliches Bewerbungsschreiben in die Welt geblasen. Der Coach wird ihm das abgewöhnen, wie so vieles mehr, über das wir hier tunlichst das Schweigen des Mäntelchens breiten.
Kommen wir lieber auf das Bewerbungsschreiben zurück. Die Sendung braucht selbstverständlich einen Coach. Und wer wäre da besser geeignet als der Wahrheit-Redakteur mit seinem Blick auf das mediale Tanzlokal: Die Journalisten sitzen an ihren Tischen und beobachten die Tanzfläche, auf der sich Politiker, Künstler, Sportler und andere öffentliche Figuren tummeln. Als Wahrheit-Redakteur sitzt man abseits an einem kleinen Tisch und beobachtet beide, die Tänzer und die Kritiker.
Jetzt fehlt nur noch der Anruf von einem Fernsehsender. Zahnseide und Zungenkratzer, Nagelfeile und Nasenhaarschneider liegen jedenfalls schon bereit.
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