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die wahrheitSt. Antons Ohrläppchen verzweifelt gesucht

Kommentar von Joachim Schulz

Wer kennt schon den Menschen nebenan? Seit Jahren sind Kemper und ich Nachbarn, und immer, wenn ich dem Hünen begegne, grüßen wir uns artig...

..Ich weiß, dass er im Katasteramt einen Haufen wichtiger Pläne verwaltet - aber sonst? Kenne ich seine Lieblingskäsesorte? Weiß ich, welche drei Platten er mitnähme auf eine einsame Insel? Nö. Nope. Njet.

Insofern hätte es mich nicht wundern müssen, als ich die Kellertreppe hinunterging und entdeckte, dass er unten im Vorraum über den Boden robbte und mit einer Taschenlampe die Ecken ausleuchtete. Ich erinner te mich an eine Figur in T.C. Boyles Roman "Worlds End", die mit Genuss Kellerdreck verspeist, hielt es für ratsam, Kemper nicht aufzuschrecken, und wollte die Treppe gerade wieder hinaufschleichen, als er mich bemerkte. "O, guten Abend!", sagte er, "haben Sie zufällig St. Antons Ohrläppchen gesehen?" - "Was?", sagte ich. "So groß ungefähr", sagte er. Er zeigte mit den Fingern die Größe eines Ohrläppchens, und ich schluckte. Was hatte dieser Mensch für eine bizarre Passion? Stahl er die Ohrläppchen von Heiligen aus Reliquienschreinen, um sie im Dreck unseres Kellers zu wälzen? "Quatsch!", dachte ich, "du liest zu viele Krimis!" Dann sagte ich zu Kemper: "Nein, tut mir leid!" und ging mannhaft die Treppe hinunter.

"Es ist zum Verzweifeln", seufzte er. "Vielleicht ist es eine blöde Frage", redete ich drauflos, "aber was haben Sie mit dem Ohrläppchen eines Heiligen zu tun?" "O", sagte er, "kommen Sie, ich zeig es Ihnen!" Er fasste mich am Arm und schob mich die Treppe hinauf. Jäh brach mir der Schweiß aus. War ich denn wahnsinnig geworden? Jetzt konnte ich diesem gewiss bärenstarken Riesen nicht mehr entkommen, gleich würde er mich in sein Badezimmer schubsen, abmurksen, zerstückeln und dann im Verlauf der nächsten Monate mit dem Biomüll entsorgen! Ich taumelte, schwankte und

"Bitte!", rief er plötzlich. Wir standen in seinem Wohnzimmer. Nirgendwo waren Mordwerkzeuge oder chirurgische Sägen zu sehen. Dafür waren die Wände vollgehängt mit - Puzzles! Großen, zusammengeklebten Puzzles von Kunstwerken des 20. Jahrhunderts. Auf dem Tisch lag Kempers letzte Arbeit: Ein Puzzle von Dalís "Versuchung des heiligen Antonius", in dem noch genau ein Teil fehlte. "Sehen Sie?", sagte er. Ich fragte: "Aber wie soll das Teil in den Keller gelangt sein?" - "Was weiß ich", krächzte er, "manchmal legen die Dinge die seltsamsten Wege zurück. Fest steht, dass es vor ein paar Tagen noch da war und ich hier oben alles durchstöbert habe." - "Hm", machte ich, spähte hier unter die Teppichfransen und dort in einen Blumentopf, zuckte schließlich die Schultern, wünschte ihm noch viel Glück und ließ ihn allein zurück.

Später, als ich schlafen gehen wollte, purzelte etwas aus meiner Hosentasche. Es war ein Puzzleteil, und ich lag noch lange wach und fragte mich, ob es tatsächlich durch einen haarsträubenden Zufall dorthin gelangt sein mochte oder doch eher Kemper dahintersteckte - ein harmlos scheinender Puzzlespieler, der nur darauf wartete, dass ich noch einmal bei ihm klingelte und er endlich seine nagelneue Chirurgensäge ausprobieren könnte.

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