die wahrheit: Der gute Mensch von Gießen
Horst Eberhard Richter wird nun doch Ehrenbürger der hessischen Bronx.
Gießen ist ein Drecksloch. Schon immer gewesen. Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die mittelhessische Provinzmetropole an der Lahn seinerzeit bereits von Georg Büchner vollkommen zu Recht als "eine hohle Mittelmäßigkeit in allem" lobend erwähnt wurde.
Die Stadt umschnurrt auch heute noch ein seltsam-morbides Flair, ein scheinbar jederzeit einsatzbereiter Wille zur Gesamtverlottertheit, der die ungezwungene Lebensfreude der Region mit der eines leprakranken Taliban vergleichbar macht. Gießen besitzt dergestalt nicht nur die größte offene Trinkerszene der Republik, sondern schmückt sich vielmehr auch mit einer ominösen Psycho-Studie, deren durchaus nachvollziehbares Fazit von unzähligen studentischen Generationen an ebenso leichtgläubige, wie faszinierte Erstsemester weitergegeben wird und Folgendes besagt: Angeblich sollen in Gießen auf jeden Bürger, gemessen an der Einwohnerzahl, die weltweit zweitmeisten psychisch Kranken kommen. Lediglich New York verfüge laut jener Studie über ein größeres Repertoire an psychisch Kranken. Aber in Hessen gibt man sich optimistisch, die Amerikaner nach dem Abzug der Besatzer aus der Garnisonsidylle Gießen auch ein zweites Mal bestens hinter sich zu lassen.
Ob das alles tatsächlich empirisch nachvollziehbar ist, weiß niemand genau, doch trägt es so oder so zum Nimbus des Speziellen von Gießen bei, das schon in den Fünfzigerjahren von einer großen deutschen Illustrierten wegen seiner damaligen Spitzenmordrate zum "Schanghai an der Lahn" erklärt wurde. Und auch die Tatsache, dass sich die eingeborenen Gießener selbst "Schlammbeißer" nennen, zeugt ja schon von einer gewissen regionalen Survival-Mentalität.
Zwar hat der bereits oben erwähnte Georg Büchner einst auf der bei Gießen beheimateten Badenburg jene unsterbliche zweckoptimismusgestählte Volksparole "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" hinausposaunt; zwar hat Justus Liebig hier gewirkt; und auf dem alten Friedhof liegt noch Konrad Röntgen begraben; ja vor einigen Jahren hat sogar Weltmeister Uwe Bein beim VfB gekickt, aber das wars dann auch schon mit den Gießener Beiträgen zur Weltgeschichte.
Beinahe - wenn es in Gießen nicht einen wackeren Menschen geben würde, der Hessens Bronx in einem etwas weniger düsteren Licht erscheinen lassen würde: Horst Eberhard Richter, Psychoanalytikerpapst und leiser Mental-Apatsche, der in Gießen ein renommiertes psychosomatisches Institut etablierte und in den Siebzigerjahren gemeinsam mit seinen Studenten über viele Jahre hinweg in einem der sozialen Top-Brennpunkte der Stadt ein Projekt betreute, dass bundesweit in Sachen "Extreme-Integriering" Schule machte. Mit anderen Worten: Richter holte die Gießener von der Straße.
Nebenbei gilt der umtriebige Mann auch noch als einer der Urväter der deutschen Friedensbewegung, und wäre vor einiger Zeit nicht Kardinal Ratzinger zu Benedikt dem Viertelvorzwölften mutiert, wer weiß, wo Richter heute seinen Hauptwohnsitz hätte ...
Für viele Städte wäre das Grund genug, einen solch vermeintlich großkalibrigen Mitbürger zu feiern und zu preisen oder wenigstens eine Trinkhalle nach ihm zu benennen - doch Gießen wäre nicht Gießen, wenn man dort nicht derlei Honoriges etwas eigenwilliger handhabte. Bereits vor Jahren wollte man Richter in den Stand des Ehrenbürgers stemmen, doch aufgrund angeblicher "fehlender Akzeptanz in der Bevölkerung" konnte die örtliche Kasperkoalition von CDU, FWG und FDP diesen fragwürdigen Adelsschlag gerade noch mal so verhindern. Der peinliche Fauxpas sorgte seltsamerweise bundesweit für Schlagzeilen, die jedoch einmal mehr sehr schön den Ruf dieser Stadt als geistig daheimgebliebene Dauerprovinz eindrucksvoll untermauerten. Wer aber lange genug lebt, wird meist doch noch Ehrenbürger. So wird also aufgrund neuer lokalpolitischer Gewichtungen und von den Grünen in bester "Und wenn nicht, dann halten wir solange die Luft an, bis was passiert"-Manier ertrotztem Koalitionsgeklüngel Horst Eberhard Richter nun eben im Zweitversuch Ehrenbürger der Stadt Gießen.
Eine listige Taktik, der sich auch die bisher hauptsächlich für den eher laxen Umgang mit ihren Verstand bekannten lokalen Geistesgrößen der CDU nicht erwehren konnten. Und so bekommt einmal mehr eine Stadt nicht nur den Ehrenbürger, den sie verdient, sondern auch einen Ehrenrang durch die Art und Weise, wie sie ihn sich verdient hat: durch sinnfreies Reden, kalkuliertes Abwägen und nicht zuletzt den theoretischen Willen zur besseren Welt. Fest steht aber, dass Gießener Jahre nervlich doppelt zählen, und so kann man die frische Ehrenbürgerschaft Richters auch als Anerkennung für besonders zähes Ausharren in eigener Sache betrachten. JÖRG SCHNEIDER
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