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die wahrheitMeine frühe Zeit auf der Gladioli-Farm

Heutzutage fühle ich mich hin und wieder wie ein dicker Amerikaner, von dem man inzwischen weiß, dass er so dick ist, weil er sehr viele Nahrungsmittel verzehrt ...

Heutzutage fühle ich mich hin und wieder wie ein dicker Amerikaner, von dem man inzwischen weiß, dass er so dick ist, weil er sehr viele Nahrungsmittel verzehrt, die es offiziell nicht gibt und deshalb nicht zählen, ihn aber nichtsdestoweniger nähren. Immer, wenn ich mich so fühle, möchte ich von meiner Zeit auf der Gladioli-Farm berichten. Es war eine frühe, gute Zeit, glaube ich. Vielleicht belügen oder betrügen mich da aber auch die Tiere, die meine Erinnerungen machen.

Mit Tieren muss man sehr vorsichtig sein, vorsichtiger noch als mit Blumen. Tiere waren zum Beispiel schuld am Rheuma des Erzbischofs. Man weiß nicht genau, was sie taten, um die Erkrankung auszulösen, aber an ihrer Urheberschaft besteht kein Zweifel. Auch uns auf der Gladioli-Farm spielten sie gelegentlich übel mit - Tiere aßen unsere Noten, unsere Hausschuhe aus Fernost und unsere Fahrkarten.

Bevor ich hier über die Zeit auf der Gladioli-Farm berichte, möchte ich der Leserschaft noch schnell meine derzeitige Lieblingsszene mitteilen - allerdings habe ich sie mir selbst ausgedacht. Sie ist ganz kurz und geht so: "Der Stabsarzt beugte sich zum Rasen hinab. "Ich kann dem Stadion nicht helfen", hauchte er. Der Vorstand schluchzte." Ist es nicht verblüffend, welche wilde Kraft und Poesie in diesen wenigen Sätzen liegt? Welche Welt sich da eröffnet! Ich muss mir, bevor ich weiterschreiben kann, unbedingt ein Butterbrot zubereiten.

(Bereitet sich ein Butterbrot zu. Kauend:) Auf der Gladioli-Farm verbrachte ich meine Kindheit im Licht wertvoller Glühbirnen. Von Zeit zu Zeit wurde ich in die Welt hinausgeschickt, um unter abenteuerlichsten Umständen neue zu besorgen. Dereinst, wenn die Tiere mit meinen Erinnerungen an die Glühbirnen- Beschaffungsaktionen fertig sind, werde ich diese niederschreiben und veröffentlichen. Einmal, das weiß ich jetzt schon, entdeckte ich in einem großen Elektro-Fachgeschäft alle Glühbirnen, die wir damals auf der Gladioli-Farm brauchten. Doch das ist, wie gesagt, eine andere Geschichte. Zu jener Zeit, von der hier die Rede ist, hielt ich mich nach Möglichkeit im Bereich des Kunstlichts, also in geschlossenen Räumen, auf und mied das direkte Sonnenlicht. Das erschwerte meinen pflichtgemäßen Umgang mit den Blumen, die draußen in der Erde wuchsen. Ich hatte eine große Abneigung dagegen, das Haus zu verlassen, was ich hätte tun müssen, um die Blumen zu düngen. Man ließ mich im Schein der Glühbirnen aufwachsen und erwartete von mir, dass ich dafür die Blumen mit Nährstoffen versorgte. Ich tat es aber nicht, habe daher an die Blumen keine besondere Erinnerung. Möglicherweise wurden die Blumen auch sowieso von den Tieren gefressen.

Woran ich mich besser erinnere, ist der Stabsarzt.

Er kam alle paar Monate auf die Farm und bückte sich zu den Blumenbeeten hinab. Was er dabei sprach, weiß ich nicht mehr, aber er prophezeite von Anfang an, ich werde einmal viel essen müssen, und behielt nachweislich recht. Irgendwann aßen ihn die Tiere, und ihm blieb gnädigerweise erspart, dass ich heutzutage zahllose inoffizielle Nahrungsmittel zu mir nehme und mich infolgedessen manchmal fühle wie ein dicker Amerikaner.

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