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die wahrheitDer Daumen des Sarden

Jahrelang dachte ich, Vitello Tonato, das wäre dieser italienische Schnulzenbarde mit der Ausstrahlung eines Martini schlürfenden Delfins im Morgenmantel...

Jahrelang dachte ich, Vitello Tonato, das wäre dieser italienische Schnulzenbarde mit der Ausstrahlung eines Martini schlürfenden Delfins im Morgenmantel. "Was!? Du hast noch nie Vitello Tonato gegessen?", wunderte sich die Wirtin. Sie besaß ein italienisches Restaurant und ließ mir und ihrem sardischen Freund, mit dem ich am Tisch saß, sofort Vitello Tonato bringen, während ich belehrt wurde, dass es sich um dünn geschnittenes Kalbfleisch in Thunfischsauce mit Kapern handelt. "Ja, schmeckt ganz wunderbar", log ich, während sie ging, um das Lob in die Küche zu tragen. "Vitello Tonato schmeckt nach Muschi", bemerkte der grobe Sarde beiläufig.

Tapfer vertilgte ich das Kalbfleisch, aber auch nur, weil ich mich selbst ablenkte und auf den Daumen des Sarden starrte. Ich kannte die Geschichte. Zweimal war ihm sein Daumen abhandengekommen, und jedes Mal war er wieder angenäht worden.

Beim ersten Mal hatte er versucht, im Rasenmäher verkeiltes Gestrüpp zu entfernen, während der Motor lief. Immer wütender wurde er über das sperrige Gekraute, das sich auch gewaltsam nicht lösen wollte, bis seine herumruckelnde Hand in den Mäher hineingerissen wurde. Eine der scharfen Klingen trennte den Daumen sauber ab.

Beim zweiten Mal hatte er gerade seiner türkischen Freundin seine sehr persönlichen Vorstellungen von Liebe eingeprügelt, als sein Schwager ihm auflauerte. Der Türke packte ihn von hinten, hielt ihm ein Messer an die Kehle und erklärte ihm, dass er Gewalt gar nicht schätze, zumindest wenn sie gegen seine kleine Schwester gerichtet sei. Der Sarde riss seinen Arm hoch, um sich zu befreien, und geriet mit dem Daumen in die Klinge, die der Türke nach vorne gedreht hatte.

Bis auf einen leuchtenden Narbenkranz sah der Daumen fast aus wie neu, und der Sarde gebrauchte ihn ohne Probleme, als er die Reste der Thunfischsauce mit einer Weißbrotscheibe aufstippte. Offenbar hatte er bemerkt, dass ich sein liebstes Stück anstarrte, denn er hielt ihn hoch und sagte: "Kein Gefühl mehr drin. Dreimal weg!" - "Dreimal?", fragte ich verdutzt. Dann erzählte er mir alles. Seither hatte ich kein Vitello Tonato mehr gegessen.

Auch jetzt lehnte ich höflich dankend ab. Mit leuchtenden Augen hatte die Gastgeberin uns als Einstieg in ein opulentes Mahl eine außergewöhnliche Vorspeise angekündigt: Vitello Tonato. Ich nuschelte, dass ich es nur einmal im Leben gegessen hätte und seither gar nicht möge und dass es dafür triftige Gründe gäbe, die ich besser verschweigen wollte, weil es dabei um einen Sarden gehe, der dreimal seinen Daumen verloren hätte. Die Neugier der Gäste war genügend angestachelt, also schilderte ich die Abenteuer des Sarden mit dem Rasenmäher, dem Türken und seiner neuen Freundin. Denn der Sarde hatte nach seinem zweiten Unfall die Türkin verlassen, aber gleich eine neue Freundin gefunden, mit der er tat, was er am liebsten zu tun pflegte: "Beim Ficken musst du der Frau den Daumen hinten reinstecken", hatte er mir fachmännisch doziert und genüsslich die Saucenreste vom Daumen geschleckt. Leider wären "beim ersten Bums" die frischen Nähte gerissen.

An diesem Abend rührte keiner mehr das Vitello Tonato an.

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