die wahrheit: Mein Leben als Trinkjoghurt
Ich hatte genug. Endgültig. Seit vierzig Jahren wurde ich vom Lärm zersägt. Schon die Klinik, in der ich zur Welt kam, stand am Rand eines vierspurigen Kreisverkehrs...
Ich hatte genug. Endgültig. Seit vierzig Jahren wurde ich vom Lärm zersägt. Schon die Klinik, in der ich zur Welt kam, stand am Rand eines vierspurigen Kreisverkehrs, auf dem während meiner Geburt ein Korso der deutschen Kabinenrollerfreunde herumknatterte, die an dem Tag ihr Jahrestreffen in meiner Heimatstadt veranstalteten.
Auch das Haus meiner Kindheit garantierte ein gewaltiges Krachaufkommen, da es an einem Autobahnzubringer lag: Nachts, wenn ich Schlaf zu finden versuchte, vibrierte die Matratze unter mir infolge der draußen vorüberdröhnenden Sattelschlepper, und morgens fühlte ich mich stets wie ein gut durchgeschüttelter Trinkjoghurt.
Wir zogen um, und unser neues Domizil befand sich in einer nur mäßig befahrenen Straße. Dafür hatte niemand auf die Eisenbahntrasse hinter dem Haus geachtet. Auf ihr donnerten nachts endlose Erzzüge Richtung Ruhrpott, wo damals noch die Hochöfen glühten, und so torkelte ich morgens weiterhin wie ein schaumiger Trinkjoghurt ins Bad. Als Trinkjoghurt ging ich zur Schule, als Trinkjoghurt machte ich Abitur, als Trinkjoghurt brachte ich den Zivildienst hinter mich.
Ich verließ meine Heimatstadt, und es war gar kein Wunder, dass mein erstes WG-Zimmer auf den Hof einer Feuerwache hinausging, wo auch tief in der Nacht die Alarmglocken schrillten und die Motoren der Löschwagen röhrten. Ich zog oft um in den folgenden Jahren und wohnte in vielen Zimmern. Sie alle aber lagen entweder in der Einflugschneise des Flughafens oder so dicht am S-Bahn-Damm, dass ich die Schlagzeilen in den Zeitungen der am Fenster sitzenden Passagiere lesen konnte. Am Ende zog ich in eine kleine Wohnung in einer Einbahnstraße. Die Straße allerdings wurde gern als Abkürzung benutzt - so gern, dass sich auch nachts manchmal Staus aus Kabinenrollern und Sattelschleppern bildeten. Morgens unter der Dusche jedenfalls fühlte ich mich nach wie vor sehr schaumig, durchgeschüttelt und blepblep.
Einmal aber gab es kurz vor Sonnenaufgang einen ohrenbetäubenden Knall. Ich schoss aus dem Bett. "Was war das?", rief ich ins Treppenhaus: "Ein Erdbeben?" - "Ein Panzer!", rief ein Nachbar zurück: "Er hat die Mülltonne plattgefahren!" - "Sie haben Sie ja nicht alle!", sagte ich, doch die Mülltonne vor dem Haus war wirklich briefmarkenplatt, und am nächsten Tag stand in der Zeitung, dass jemand mit einem gestohlenen Panzer durch die Stadt gegurkt sei. "Jetzt reichts!", sagte ich: "Ich will eine Wohnung in einem stillen Bezirk! Sofort!"
Tatsächlich hatte ich überhaupt keine Mühe, eine Wohnung in einem Tempo-30-Viertel zu finden, die von Gärten umrahmt war. "Ruhe! Stille! Herrlich!", seufzte ich, als ich am ersten Abend schlafen ging. Gegen vier wachte ich auf, weil draußen zirka zwei Millionen Piepmätze tirilierten. Ich grunzte und wickelte mir das Kissen um den Kopf. Als ich um sieben das nächste Mal erwachte, hörte ich vor dem Fenster einen Rasenmäher knattern. Zugleich begann irgendwo eine Kreissäge zu heulen. Und während ich noch darauf wartete, dass der nächste Nachbar einen Panzer anließe, spürte ich, wie ich die gewohnte schaumige Konsistenz annahm.
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