die wahrheit: Elfterelfter
Am Sonntag ist der absolute Tiefpunkt des Kalenderjahres erreicht: Es ist der Elfteelfte, es ist Karneval.
Am Sonntag ist der absolute Tiefpunkt des Kalenderjahres erreicht: Es ist der Elfteelfte, es ist Karneval. Wer wie ich aus einer Karnevalsgegend kommt und dennoch seine sieben Zwetschgen beisammenhat, der weiß, warum ich den Karneval hassen gelernt habe und vor einem Vierteljahrhundert in die Freiheit geflohen bin.
Schon als Kindergartenkind war mir der katholische Mummenschanz nicht geheuer. Einmal im Jahr durften die größten Dummköpfe zeigen, dass sie ebensolche sind. Na toll! Dazu brauchte es keinen Karneval.
Nur mit sehr viel Alkohol und anderen Drogen war der Ausnahmezustand einigermaßen zu ertragen, der eher ein intimes Kriegsrecht ist: Wildfremde Menschen befingern und umschlingen sich, pressen fettig grinsende Gesichter aneinander und kübeln den morastigen Inhalt ihrer untersten Hirnschubladen auf die Straßen.
"Sei kein Spaßverderber", hieß es dann und: "einmal im Jahr." Nicht eine Sekunde!, weigerte ich mich. Legendär ist der Vorschlag meiner quengelnden Mutter, die als Zeremonienmeisterin die Familie auf Karneval zu trimmen versuchte: "Mal dir doch wenigstens ein blaues Auge." Ich machte den Scheibenwischer und ging hinüber zu den Nachbarkindern, um die als Biene Maja oder Supermann kostümierten Deppen als "Arschwarzen in Strumpfhosen" zu beschimpfen. Am Abendbrottisch saß ich dann verlässlich mit einem blauen Auge da: "Reicht dir das?", fragte ich meine Mutter.
Später tauchten die alternativen Stunk-Karnevalisten auf, die es erstaunlicherweise vollbrachten, noch eine Spur grauenhafter zu sein als die Originale. Sie waren ein Nebenprodukt der weißmaskierten Demonstranten der Siebzigerjahre, die der Gesellschaft die Maske herunterreißen wollten und dabei so freudlos wie humorfrei auftraten, dass man früh ahnte: Irgendwann wird das Andere zum Einen. Und tatsächlich traf man diese Weißmasken nach ihrem langen Marsch durch die Institutionen auf genau den Posten der Macht wieder, die zuvor die Karnevalisten besetzt hatten.
Am Samstag bin ich zum ersten Mal im Leben zu einer Karnevalsparty eingeladen. Sie trägt das sagenhaft originelle Motto: "Die Siebzigerjahre". Bei der Party darf ich noch nicht einmal unentschuldigt fehlen, weil es sich um einen runden Geburtstag in der Familie handelt. Und wer die mafiaartigen Drohworte "Familie" und "runder Geburtstag" kennt, dem schwant, was auf mich zukommt: frivole Sketche von kostümierten Freunden des Geburtstagskindes, dem bei einer nachgespielten TÜV-Untersuchung bescheinigt wird, zumindest sexuell noch voll funktionstüchtig zu sein.
Ich werde mich an diesem Abend nicht verkleiden, da ich einen unbezahlbaren Vorteil besitze. Im Zuge der aktuellen Retrowelle sehe ich im echten Leben viel eher nach den Siebzigerjahren aus als jeder der Kostümierten. Ich werde mich also in eine Ecke zurückziehen, still dem Treiben zuschauen und auch das eine oder andere missbilligende Wort aufschnappen: Das sei also der Berliner, der sei wohl eine rechte Spaßbremse. O ja, das bin ich, jedenfalls was den Karneval angeht. Es ist ein schmutziger Job, aber irgendjemand muss ihn schließlich machen.
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