die wahrheit: Das Sahlbacher Suppensummen
Tage des geheimnisvollen Brauchtums: das Leibgericht des übernächsten Nachbarn.
Seit Mitte 1876 gehört in unserem Blatt die Berichterstattung über altdeutsche Advents-, Neujahrs oder sonst wie geartete folkloristische Handhabungen zur guten Tradition, und seit eben jener Zeit wird die zuständige Redaktion von einer Schwemme interessierter und anderweitig wohlwollender Leserbriefe sowie diverser regionaler Hinweise auf jene liebevollen traditionsgestählten Rituale regelrecht überflutet.
Daher soll es hier und heute auch um einen Brauch gehen, der nicht nur aufgrund seiner liebenswerten und sympathischen Art an das sagenumwobene Wonzbacher Wurstwerfen erinnert, sondern vielmehr sogar noch eine ebenso abgeschmackte Alliteration enthält: das Sahlbacher Suppensummen. Im oberhessischen Sahlbach-Effze, idyllisch im Niedertaunus direkt zwischen Fulda und Darmstadt gelegen, gilt es nämlich seit den Fünfzigerjahren einen lustig-spannenden Essensbrauch zu bestaunen, der auf das freitägliche Heimkommen der Sahlbacher Bergleute zurückgeht, die in den nahegelegenen Weihern, Tümpeln und Teichen Fische für die Nachbarregionen abbauten.
"Damals, nach dem Ersten Gipskrieg, das war eine wirklich harte Zeit", weiß einer der Mitbegründer und damit gleichsam Erfinder des Brauches, der spätere Sahlbacher Glühbirnenschnitzer Fondor Cooper, zu berichten. "Wir Männer waren ja die ganze Woche lang an, im und um die Gewässer herum beschäftigt, und da hat uns der ständige Fischgeruch schon ziemlich mürbe gemacht. Zumal auch die Arbeit selbst kein Zuckerschlecken war. Or no sugar licking, wie unsere britischen Leiharbeiter auswärts zu sagen pflegten."
Und doch erinnert sich der heute 83-jährige Cooper, der noch immer ehrenamtlich als Wasserverwerter und Tümpelbeauftragter bei den Sahlbacher Stadtwerken arbeitet, gerne zurück an die Vorfreude auf das wochenendliche und alkoholgetränkte Heimkommen in den harmonischen Kornkreis der Familie: "Wenn wir also Freitagabends von den Seen nach Hause kamen, waren wir meist schon ganz aufgeregt, was es denn wohl wieder Feines zu essen geben würde, denn uffe Schicht haben wir uns natürlich hauptsächlich darüber unterhalten, auf welches Essen man sich am Wochenende denn ganz besonders freut. Eines Freitags, ich kann mich noch genau erinnern, es war der 5. Januar, genau einen Tag vor dem Dreikönigstag 1953, da hatten sich unsere Frauen etwas ganz Besonderes für uns ausgedacht. Wir Männer waren wie immer geschlossen von der Arbeit gekommen, als sie uns alle zusammen gemeinsam am Sahlbacher Ortseingang, der damals noch komplett aus Holz war, erwarteten. Wir hatten zwar keine Ahnung, warum, aber gefreut haben wir uns selbstverständlich trotzdem. Und gewundert natürlich auch. Aber allein an diesem ganz bestimmten Glanz in ihren Augen konnten wir erkennen, dass sie uns eine Freude machen wollten."
Coopers Stimme beginnt leicht zu zittern, als er weiter erzählt: "Unsere Frauen erklärten uns dann, dass jeweils eine das Leibgericht ihres übernächsten Nachbarn auf der rechten Seite gekocht hätte, und wir Männer sollten nun raten, wer wo wohnt! Stellen Sie sich das mal vor. Die Freude war unermesslich. Und als alle herausgefunden hatten, was es zu essen gab, da sollten wir noch das Geräusch der jeweiligen Speise leise vor uns hinsummen. Da die meisten bei uns im Dorf am liebsten lecker Suppe mit Soße gegessen haben, kam da natürlich in der Abenddämmerung ein sehr schönes besinnliches Summen zustande. Ich muss gestehen", erklärt Fondor Cooper mit Tränen in den Augen, "das war einer der rührendsten Momente in meinem Leben."
Und selbst heute, bei der distanzierten und kühlen Erzählung und Niederschrift der Ereignisse, kann man sich jener Wärme, die da seinerzeit das oberhessische Dorf durchflutet haben muss, kaum entziehen. Seit jenen Tagen ist es gute Tradition in Sahlbach-Effze, am Tag vor dem Dreikönigstag alljährlich Gleichwertiges zu vollbringen, das Lieblingsessen seines übernächsten Nachbarn zur Rechten zu kochen und dann die Männer raten zu lassen, wo sie wohnen. All das garniert mit den liebevoll sonor gesummten Geräuschen der verschiedenen Gerichte und nicht zuletzt den glücksdurchfluteten Tränen, deren sich vor allem die Männer in diesen Momenten wahrlich nicht schämen. Reicht doch der Brauch bis hin zu ihren Vätern, Großvätern und Urgroßvätern zurück in eine Zeit, in der man den Fisch noch direkt vor Ort in die heute bekannte Stäbchenform bog.
Als ganz besonderes Dankeschön an alle traditionsbewussten Sahlbach-Effzer Bürger - und natürlich auch für alle anderen Interessierten - wird übrigens passend zum Dreikönigstag eine vom Sahlbacher Gemeindechor Die Ochsenschwänze besummte CD mit den allerschönsten hessischen Suppenmelodien erscheinen.
So soll es und so wird es immer wieder sein. Am Freitag vor dem Dreikönigstag in Sahlbach-Effze.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen