piwik no script img

die wahrheitDer Wein und die Erkenntnisallergie

Kommentar von Rudolf Walther

Eine gesellschaftliche Funktion von Wissenschaft besteht darin, den Laien neue Erkenntnisse zu vermitteln, damit sie ihre Lebensweise anders einrichten können...

.. - wenn sie denn können und wollen. Derlei Sätze beruhigen, zumindest bis es ins Detail geht. Und da wird es für den Laien schnell haarig.

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigten vor Jahren einen positiven Zusammenhang zwischen dem Untergang des "realexistierenden Sozialismus" und der Zunahme von Allergien - insbesondere Heuschnupfen. Hinter der These stehen weder spätstalinistische Dunkelmänner noch westliche Pharmakonzerne, sondern seriöse deutsche Epidemiologen. Als Grund für das Ansteigen der Allergien im Osten machen sie den gestiegenen Konsum von Margarine aus. Für Liebhaber der Genauigkeit: "Linolsäure und andere mehrfach gesättigte Fettsäuren" sind verantwortlich für den Anstieg von Allergien.

Mitverantwortlich ist auch der durch den Gesamtverkehr gewachsene Anteil von Stickoxyden in der Luft - das sind Abgase aus Autos, Lastwagen, Flugzeugen, aber auch Kohlekraftwerken. Die Lebensart bestimmt also auch das Geschehen an der Allergiefront. Mit dem Hochziehen des Eisernen Vorhangs kamen nicht nur die Boulevardzeitungen und die nackte Freiheit, sondern auch die Margarine und damit der Heuschnupfen.

Für die Hartgesottenen unter den Freunden der Aufklärung sind solche Zwiespältigkeiten, Nebenwirkungen und Kollateralschäden keine Überraschung. Schließlich muss, wer Fußball will, auch Kahn & Co. in Kauf nehmen. Man sollte aber für die trivialen Fährnisse des Lebens nicht immer gleich die "Dialektik der Aufklärung" bemühen. Das endet im Sportreporter-Kitsch.

Andererseits gibt es viele Enthusiasten des reinen Weins und der klaren Ansage. Die könnten nach der folgenden Meldung in der Wissenschaftsbeilage einer Zeitung ins Grübeln kommen. Nachgewiesen ist, dass in den Schalen roter Weintrauben der Stoff Reservatrol enthalten ist. Der Stoff wirkt etwa ähnlich wie das weibliche Sexualhormon Östrogen. Dieses Hormon schützt Herz und Kreislauf bei Mann wie Weib, befördert aber auch das Wachstum bestimmter Krebssorten.

Bei Mäusen hat der Barolo-Stoff allerdings auch erhöhte Resistenz gegen Brustkrebs ausgelöst - bei Mäusen! Hätten Männer in etwa die Konstitution von Mäusen, könnten sie beruhigt weiter trinken. Ins Wissenschaftliche übersetzt hört sich die Diagnose freilich etwas weniger beruhigend an: "Reservatrol ist jedenfalls ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass ein und derselbe pflanzliche Inhaltsstoff für den Menschen sowohl günstige als auch potenziell gefährliche Wirkungen haben kann."

Genau so ist es: Barolo tut gut, macht aber auch besoffen und im Ernstfall krank. Aber so etwas ahnten die Freunde des Weins wie jene der Aufklärung immer schon. Auch in der Wissenschaft geht es krumm zu und her und voran ohnehin nur auf Zickzackwegen und mit Abstürzen - fast wie beim Trinken. Nur für die Enthusiasten des reinen Weins, der klaren Ansage und des sturen Blicks ist derlei wissenschaftlich erhärtete Erkenntnis niederschmetternd.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!