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die wahrheitEiner dieser Tage

Ich wich der am Boden knienden Verkäuferin aus und blieb mit der Schulter an dem Werbepappschild hängen, das am gegenüber liegenden Regal in den Gang hineinragte.

Ich wich der am Boden knienden Verkäuferin aus und blieb mit der Schulter an dem Werbepappschild hängen, das am gegenüber liegenden Regal in den Gang hineinragte. Die Pappe federte zurück, und das Weinregal erzitterte. Die Verkäuferin sah nur kurz hoch, verdrehte ihre schönen, grünen Augen und ergab sich im Bruchteil einer Sekunde wortlos in ihr Schicksal. Im obersten Regal wackelte eine Rotweinflasche unentschlossen hin und her, bevor sie sich doch noch für den Fall entschied. Mit einem lauten Knall zerbarst sie am Boden, und der weiße Kittel der Verkäuferin war rot gesprenkelt. Es war einer dieser Tage.

Ich erwachte, und meine Nackenhaare sträubten sich noch im Halbschlaf. Einbrecher, schoss es mir durch den Kopf. Von außen rüttelte jemand an der Balkontür. Am frühen Morgen. Mit der Stablampe in der Hand schlich ich ins Balkonzimmer. Vorsichtig lugte ich hinaus. Durch die Scheibe sah mich das frierende Kätzchen vorwurfsvoll an. Hatte ich es die ganze Nacht draußen im Regen ausgesperrt? Es war einer dieser Tage.

Ich stieg die große Leiter hinauf. Bei drei Meter sechzig Deckenhöhe konnte ich die neue Lampe nicht anders anbringen. Die porzellane Leuchtschale war eine Antiquität. Glücklicherweise hatte sie den Transport unbeschadet überstanden. Vorsichtig hängte ich sie am Haken auf. Erstaunlich mühelos ließen sich die elektrischen Anschlüsse verbinden. Ich drückte die Abdeckkappe fest - und schon hing die wunderhübsche Jugendstillampe perfekt an ihrem Platz. Jetzt musste ich nur noch behutsam die Leiter hinabsteigen. Wo war eigentlich der Schraubenzieher? Der glitt gerade aus meiner Tasche und fiel genau in die Mitte der Lampe. Klirrr! Es war einer dieser Tage.

Zu spät merkte ich, dass der Tag des entscheidenden Spiels war. Das selbstredend nur im Bezahlfernsehen gezeigt wurde. Da gab es doch eine "Premiere Sportsbar" in der Nähe … Ob er gleich auf die Premier League umschalten würde, fragte ich den Wirt, der nicht den hellsten Eindruck machte. "Premjär wat?", erwiderte er. Englischer Fußball, erklärte ich. "Haick nich im Anjebot", meinte der Herr der Kanäle. Das konnte ich vergessen. Es war einer dieser Tage.

Vor dem Haus traf ich die italienische Nachbarin und ihren Freund, die einen Kinderwagen mit dem neuen Nachwuchs zur Tür hinausschoben. "Ganz der Vater", schmeichelte ich ihm. Verkrampft lächelnd starrte sie ins Leere. Hätte ich wissen können, dass er nicht der Vater des Kleinen ist? Es war einer dieser Tage.

Ich las den Text zum siebten Mal. Ich lese jeden Text siebenmal. Auf Verständnis, Phrasen, Wiederholungen, Justiziables, Orthografie, Interpunktion und mit Blick auf das Schriftbild. Es braucht nur Kleinigkeiten, um einen Text qualitativ zu heben. Aus "wirklich" wird dann "tatsächlich" oder aus "natürlich" besser "selbstverständlich". Es darf auch nicht "in den letzten Tagen" heißen, weil es nie die "letzten" sind, sondern immer die "vergangenen". Automatisch änderte ich in dem Artikel, den ich gerade redigierte, das Signalwort. Später entdeckte ich, dass dort geschrieben stand: "Er pfiff aus dem vergangenen Loch." Es war einer dieser Tage. Wenn Männer ihre Tage haben.

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