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die wahrheitWarum ich Kunstlieder hasse

Das Trauma eines jungen Fernsehopfers - "Der Blaue Bock" und Rudolf Schock (Teil 1)

Schockfoto. Bild: dpa

Die Wahrheit ist kein Wunschkonzert und erst recht keine Therapiegruppe. Es ist nicht die Aufgabe der Wahrheit, frühkindliche oder spätpubertäre Traumata von Wahrheit-Autoren zu heilen - normalerweise! Doch dann erreichte uns das dringende Schreiben des Wahrheit-Autors Michael Q., dessen Namen wir hier besser verschweigen. Michael Quasthoff berichtete uns von einem schrecklichen "Knacks", den er in seiner Jugend erlitten hätte. Er sei durch eine schlimme Fernsehsendung schwer traumatisiert worden. Und so boten wir ihm an, ein gewagtes Experiment durchzuführen. Er sollte sich sein langjähriges Trauma von der Seele schreiben, auf dass es platzte wie eine satte Seifenblase auf einer Nadelspitze.

Meine erste Begegnung mit dem Kunstlied hatte ich im zarten Alter von zehn. Um es gleich vorwegzunehmen, es war ein Schock. Genauer gesagt, war es der gefeierte lyrische Tenor und Trümmerfrauenschwarm Rudolf Schock. Ich sah ihn an einem Samstag im "Blauen Bock". Für die Jüngeren unter uns sei angemerkt, dass es sich dabei um eine Fernsehsendung des Hessischen Rundfunks handelte.

Das Konzept war denkbar einfach: Der Name war Programm. Kujoniert von einem zwergnasehaften Brabbelsack namens Heinz Schenk, von Lia Wöhr, die alle nur "Frau Wittin" riefen, samt dem traurigen Komiker Reno Nonsens, welchem sich die kulturelle Ödnis der Wirtschaftswunderjahre furchentief zwischen die bernadinerhaften Backenlappen gegraben hatte, soff sich vor laufender Kamera eine Menge Volk mit Äppelwoi die Hucke voll und goutierte dabei ein Kulturprogramm, das selbst dem Führer Tränen in die Augen getrieben hätte. Vor Rührung versteht sich.

Dieses Pandämonium bempelseeliger Miefig-, und auch Unheimlichkeit bildete bis in die frühen Siebzigerjahre einen Grundpfeiler des zwangsunionierten Familienlebens. Man hatte es mithin im Kreise seiner Lieben ohne zu Murren auszuhalten, sonst bekam man nachfolgend die "Sportschau" und das Abendbrot gestrichen.

Schicksalsergeben kauerte ich also wie jeden Samstag neben meiner Großmutter in der Sofaecke, zerkaute eine Prinzenrolle, und sah mit an wie - flankiert von Herrn Schenk, "Frau Wittin" und den schalen Witzchen des Herrn Nonsens - der Kammersänger Rudolf Schock unter großem Hallo vor das "Blaue-Bock"-Orchester geführt wurde, um dortselbst Schuberts "Heideröslein" zum Vortrag zu bringen.

Habe ich schon erwähnt, dass es schrecklich war? Klar, hab ich. Nun, das ist nur die halbe Wahrheit. Rudolf Schock war bei weitem das Horribleste, was ich bis dato gehört und gesehen hatte. Und auch im späteren Leben bin ich nie wieder durch solche Sümpfe des Grauens gewatet. Denn kaum setzte Schock an, seinen Tenor auf das erste der vier präliminierenden gestrichenen Hs zu hieven, begannen dem Vortragskünstler die Züge auf eine Weise zu verrutschen, das ich den Vorgang in all seiner Widerwärtigkeit kaum beschreiben kann. Über dem klagend aufgerissenen Schlund schoben sich die Wangen zu gewaltigen, von roten Adern durchzogenen Wülsten zusammen, welche wiederum in Tateinheit mit der akkordeonös gefalteten Stirnpartie die Sehorgane in die Zange nahmen und zwar dergestalt, dass sie aus den Höhlen quollen wie ein prallgefüllter Fahrradschlauch aus einem unsachgemäß repariertem Gummimantel. Gleichzeitig nahm man an den Ohren ein epileptisches Zucken wahr, die blonden Brauen hoben und senkten sich in schwerem Seegang, so dass, weil angetrieben von denselben Muskelgruppen, auch der hohe Haaransatz, ja die ganze Frisur auf dem Schädel herumruckte und … zuckte, als versuche ihm eine gewaltige unsichtbare Faust von rückenwärts die Kopfhaut abzuziehen. Dazu schien sich der Sänger in grotesken Schweißströmen aufzulösen, er verrenkte die Extremitäten wie ein Affe und starrte in steigendem Wahn abwechselnd zum Orchesterchef und heraus aus dem Empfangsgerät in unsere gute Stube. Wie es schien, mir direkt ins Gesicht. Mich packte das blanke Entsetzen.

Doch ich schien der Einzige zu sein, der bemerkte, welch unnennbare Teufelei sich hier materialisierte. Vater zog seelenruhig an seiner Pfeife, die gute Mutter stippte Bienenstich in den Tee, und meinem Bruder schien diese Karikatur eines Künstlermenschen ungeheuer großen Spaß zu machen. Nur Großmutters schwielige Hände tatterten nervös über die braunen Stützstrümpfe, als spürte diese uralte, ihre Tage gewöhnlich wie scheintot verdämmernde Frau, dass auch Rudolf Schock die Grenzen klaren Bewusstseins längst überschritten hatte. Dabei war bis jetzt noch kein einziger Ton zu hören gewesen. Doch bald schon würde es losgehen. Ich konnte die seinem Vortrag immanente allumfassende Boshaftigkeit mit Händen greifen. Sie ließ nicht lange auf sich warten …

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1 Kommentar

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  • JT
    Johann Teibenbacher

    Ja, was soll man denn dazu sagen?

    Ein Trauma wegen Rudolf Schock?

     

    Das ist recht bemerkenswert.

     

    Zur Verteidigung des Sängers:

     

    In den 70er Jahren wurde (abgesehen von internationalen Sängerinnen und Sängern) in der Fernsehsendung "Zum blauen Bock" noch LIVE gesungen.

    Dass man dann so etwas wie eine "Anstrengung" bei einem Tenor merkt (noch dazu bei einem so schwierigen Lied, wie dem "Heidenröslein") ist eigentlich natürlich.

    Sänger und Orchester waren oft räumlich weiter auseinander, als es bei den Fernsehübertragungen aussah, was die Koordination zwischen Orchester, Dirigent und Solist zusätzlich erschwerte, und außerdem waren die alten Studioscheinwerfer weit heißer, als die heutigen.

    Da konnte man schon mal richtig ins Schwitzen kommen.

     

    Einige grundsätzliche Bemerkungen:

    Ich respektiere die Meinung und die jugendlichen Fernseheindrücke des zehnjährigen Herrn Quasthoff, dennoch nervt es mich generell ungemein, dass man immer und immer und immer wieder (ja sogar noch über zwanzig Jahre nach dessen Tod) Rudolf Schock so hinstellt, als wäre er vor allem in späteren Jahren ein letztklassiger Sänger, ja eine stimmliche Ruine gewesen.

    Bis 1975 ist Rudolf Schock noch in der Wiener Staatsoper aufgetreten, 1976 sang er die durchaus schwierige Partie des Belmonte in der "Entführung aus dem Serail" noch auf der Bühne, und noch mit 70 Jahren stellte er sich in einem Liederabend der wirklich großen Herausforderung einer kompletten "Winterreise" von Franz Schubert.

     

    Rudolf Schock ist insgesamt 52 Jahre als professioneller Sänger aufgetreten, und er hat alles was er sang, mit großer künstlerischer Ernsthaftigkeit gesungen.

    Seine Arrangeure und Bearbeiter gehören zum Besten, was damals in Deutschland zu haben war.

    Da gab es z.B: den Filmmusikkomponisten Werner Eisbrenner oder den Arnold-Schönberg-Schüler Fried Walter oder den Leiter des international renommierten Berliner Kammerchors Günther Arndt.

     

    Die Interpretation von Volks- und Wanderliedern darf man einem Sänger nicht ankreiden, der seit seiner Kindheit dieser Musik sehr verbunden und Zeit seines Lebens ein begeisterter Wanderer war, und Operette gehörte damals tatsächlich zum guten Ton und wurde keineswegs - wie heute zum Teil - als schnultzig und peinlich begriffen.

     

    Natürlich haben sich die Zeiten geändert, keine Frage.

    Die Medien haben es aber gerade im Falle von Rudolf Schock irgendwie geschafft, ihm Dinge anzukreiden, die man keinem anderen Sänger angekreidet hat.

     

    Oper auf deutsch?

    Hat Fritz Wunderlich auch gesungen.

     

    Volkslieder von Tenören?

    Wie wäre es mit peruanischen Volksliedern mit Juan-Diego Flórez auf einer aktuellen CD.

     

    Schock sah beim Singen angestrengt aus?

    Schauen Sie sich bitte José Carreras einmal genauer an. Und selbst Sänger mit einer so guten Gesangstechnik wie Alfredo Kraus oder Luciano Pavarotti wirken sind bei höheren Tönen keine wirkliche Augenweide.

     

    Intonationsschwierigkeiten?

    Bitte Ohren waschen und auch bei anderen Sängern einmal genauer hinhören!

     

    Ein Gegenbeispiel zur Darstellung von Michael Quasthoff zum Abschluss?

     

    Als meine Mutter nach langem, schweren Leiden starb, war ich oft rund um die Uhr alleine zu Hause und wenn ich nicht die Stimme von Rudolf Schock vom Plattenspieler gehabt hätte, weiss ich nicht, wie ich das schwierige erste Jahr überstanden hätte.

    Herrn Quasthoff hat Rudolf Schock also in ein Trauma versetzt, mich hat er vor einem Trauma bewahrt.

     

    Also lassen wir bitte Rudolf Schock mit Ehren und Frieden ruhen.

     

    Er hat es eigentlich mehr als verdient.