die wahrheit: Wettkampf der Entbehrungen
Das Handy summt leise. Auf dem Display erscheint eine ellenlange Nummer. Ich kann gerade nicht drangehen. Ich muss an früher denken.
W ir waren früher so depriviert in unserem kleinen Kaff, sage ich sinnierend zum besten Freund, wir hatten eine Telefonnummer, die aus vier Zahlen bestand. Aus vier! Und die Vorwahl hatte fünf. Ppphö, sagt der beste Freund, wir waren so depriviert in unserem kleinen Kaff, wir hatten eine Telefonnummer aus zwei Zahlen. Aus zwei! Und die Vorwahl hatte acht! Wenn ich mich richtig erinnere, sage ich, dann hatten wir vorher, bevor wir dieses schwarze Bakelittelefon mit der Wählscheibe bekamen, überhaupt kein eigenes. Wir mussten immer unten in den Laden gehen. Zu Ikes. Pppphö, sagt der beste Freund, wir hatten doch keinen Laden unten. Wir mussten immer in die Pfarrei! Die hatte das einzige Telefon im Umkreis von 200 Kilometer! Das war immerhin zwei Dörfer entfernt! Mann, was habe ich mir da manchmal die alten, von meinen Brüdern vererbten Schuhe durchgelaufen! Denn ein Auto hatten wir natürlich auch nicht, und der Gaul musste ja meistens die Ackerfurchen ziehen! Und der Pfarrer versuchte uns zu betatschen!
Ich schweige ehrfürchtig. Wir, setze ich an, wir waren früher so depriviert, wir haben unsere erste Kiwi wie eine Zitrone ausgepresst, weil wir nicht wussten, was das ist. Pppphö, höre ich den besten Freund schnauben. Kiwi? Wir wussten bis in meine Pubertät nicht mal, was eine Zitrone ist! Und die erste Zitrone haben wir fälschlicherweise wie einen Apfel gegessen! Ohne mit der Wimper zu zucken! Und aus den Kernen haben wir Schnaps gebrannt! Verlängert haben wir den mit Rattengift! Zwei meiner Freunde von damals sind immer noch blind und gelähmt!
Ich seufze. Als ich das erste Mal im Hotel war, sage ich zögernd, wusste ich nicht, dass der Minibar-Inhalt nicht inklusive ist … Der beste Freund verdreht die Augen. Hotel?, fragt er herablassend. Und als ich das erste Mal geflogen bin, fahre ich fort, merke aber schon, dass ich verloren habe, da wusste ich nicht, dass da wiederum das Essen inklusive ist … Der beste Freund hält es nicht mal für nötig, zu antworten. Er knibbelt angelegentlich an seinem Bierflaschenetikett und hört zu, wie mein Handy leise summt. Meine erste Seminararbeit, setze ich störrisch nach, habe ich auf einer mechanischen alten Schreibmaschine getippt! Auf braunem Umweltschutzpapier! Und dann mit weißem Tippex korrigiert! Der beste Freund schreibt gestisch mit der Hand in die Luft, seine Lippen formen unhörbar das Wort "Federkiel". Und für meinen ersten Computer musste ich MS-DOS lernen, trumpfe ich schließlich auf. So depriviert waren wir nämlich. Weiß du was ein Abakus ist?, fragt er mich, und betrachtet seine Fingernägel.
Ich will aber noch nicht aufgeben. Wir mussten beim Fahren noch Zwischengas geben … fange ich an. Kurbel, schnarrt der beste Freund.
Früher, sage ich verzweifelt, hatten die Binden bei uns noch keine Klebestreifen! Von Tampons ganz zu schweigen! Der beste Freund zieht verächtlich die Mundwinkel runter. Weißt du, wann ich das erste Mal eine Frau nackt gesehen hab?, fragt er. Nach meinem Coming-out.
Ich kapituliere.
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