die wahrheit: Meine Familie, die Außerirdischen

Irgendwann in der Pubertät war ich felsenfest davon überzeugt, dass meine Familie nicht meine Familie sein konnte.

Irgendwann in der Pubertät war ich felsenfest davon überzeugt, dass meine Familie nicht meine Familie sein konnte. Kindsräuber hatten mich entführt, im Wald ausgesetzt und meinem Schicksal überlassen, und nur zufällig hatten mich meine angeblichen Eltern beim Pilzesuchen gefunden, so dass ich nun mit diesen merkwürdigen Menschen zusammenleben musste. Alle waren sie so anders als ich, so normal, so langweilig, so spießig.

Mit dem Ende der Pubertät verflüchtigte sich meine Gewissheit. Offenbar waren meine Mutter und mein Vater tatsächlich meine Eltern, und selbst meinen Geschwistern war eine vage Ähnlichkeit mit mir nicht abzusprechen. Schlimmer noch: Ich war ihnen allen ähnlicher, als mir lieb war. Auch ich bekam mit der Zeit etwas Normales, Langweiliges, Spießiges. Und doch blieb da, weit hinten in einer fast verschütteten Schleife der Erinnerung, ein Rest Zweifel und eine Ahnung, dass irgendetwas nicht stimmte mit meiner Familie.

Zum 90. Geburtstag meiner Großmutter traf sich kürzlich die Familie. Keiner hatte sich auch nur eine Spur verändert. Dauernd wurde über das Lieblingsthema Geld gesprochen, und alle paar Minuten rief jemand entsetzt: "Was das alles wieder kostet!" Es wurde über Kinder, Krankheiten, Katzen, Urlaubsreisen, Fußball, Nachbarn, Kollegen und besonders gern über Politiker geredet: "Die lügen doch alle!" Keine Phrase oder Floskel, kein Klischee oder Vorurteil wurde ausgelassen. Ab und zu wurde das in ihren Augen schlimmste aller Verbrechen angeprangert: "Der hält sich wohl für was Besseres!"

Um 12 Uhr 30 gab es dann Markklößchensuppe. Seit Jahren hatte ich nicht mehr sonntags ein Mittagessen mit Vorsuppe zu mir genommen. Gibt es neben dem Madeleine-Effekt, mit dem Proust seine "Suche nach der verlorenen Zeit" beginnt, eigentlich schon den Markklößchen-Effekt? Dann möchte ich ihn hiermit in die Welt der Literatur einführen. Denn als meine Zunge den ersten Löffel Markklößchensuppe berührte, zuckte ein Blitz vor meinen Augen auf und leuchtete bis in die dunkelsten Windungen meines Hirns. Schlagartig wurde mir klar, dass diese Inszenierung allzu perfekt war. Markklößchensuppe am Sonntagmittag! Das war ein Hauch zu viel des Guten.

Mein Verdacht, nicht in diese seltsame Familie zu gehören, war gar nicht so falsch. Allerdings hatte man mich nicht ausgesetzt, sondern diese mit all ihren Fehlern bis ins Detail vollkommen normalen Wesen waren von Außerirdischen für ein Langzeitexperiment entwickelt und angefertigt worden. Eine solche Perfektion konnte nur einer höheren Intelligenz entspringen.

Die unglaublich neugierigen, doch harmlosen Außerirdischen stammten vom Planeten Moers in der Milchstraße. Und ich war Teil ihrer gigantischen Versuchsanordnung bei der Suche nach der Antwort auf die Frage: Wie viel Normalität kann ein einzelner Mensch verkraften?

Wie zur Bestätigung, dass ich die Familie durchschaut hatte, schwiegen plötzlich alle. Nur die 90-jährige Androidin, die ich bislang für meine Oma gehalten hatte, sah mich mit ihren eigentümlich leuchtenden Augen an und sagte: "Ist die Suppe nicht ganz wunderbar?"

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kari

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